© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Lichtgestalten des Preußentums
Eine Doppelbiographie zum 200. Geburtstag von Hermann von Helmholtz und Rudolf Virchow
Dirk Glaser

Am 18. Januar 1871 wurde das Deutsche Kaiserreich gegründet. Hundert Jahre und zwei Weltkriege später, zur Zeit von Willy Brandt, war dieses Datum noch Gegenstand einer breiten Debatte. Zum 150. Jubiläum gab es nicht einmal eine Sonderbriefmarke. Doch im wilhelminischen Reich findet sich allzu vieles, was im Merkel-Land fehlt: Sicherheit, intakte Institutionen, eine unabhängige Justiz, ein zur Selbstbehauptung fähiger Zusammenhalt und ein Bildungswesen auf Weltniveau. An Deutschlands Aufstieg zur wissenschaftlich-kulturellen Weltmacht hatte das Lebenswerk von Hermann von Helmholtz und Rudolf Virchow einen entscheidenden Anteil.

Der Reichskanzler der Physik und der Jakobiner der Medizin

Die Biographien der am 31. August beziehungsweise 13. Oktober 1821 geborenen Universalgenies verbindet die typisch preußische Mischung aus materieller Kärglichkeit und geistigem Reichtum. Helmholtz entstammt dem Potsdamer Bildungsbürgertum, Virchow, aufgewachsen im pommerschen Schivelbein und Köslin, zählt eine lange Reihe von Ackerbürgern zu seinen Vorfahren. Die finanziellen Mittel beider Elternhäuser genügten nur für eine Gymnasialausbildung. Für ihr Medizinstudium traten daher beide in die Pépinière ein, eine militärärztliche Akademie, die ihnen ein kostenloses Studium gegen die Verpflichtung ermöglichte, anschließend als Heeresärzte zu dienen. Einige Umwege führten beide schließlich zurück in Preußens Hauptstadt. Bei dem Physiologen und Physiker Helmholtz waren es Professuren in Königsberg, Bonn und Heidelberg, während der Pathologe Virchow, 1849 in Berlin „wegen politischer Betätigung“ als „Jakobiner der Medizin“ amtsenthoben wurde und er deshalb sechs Jahre „Exil“ im bayerischen Würzburg verbrachte.

Zu ihrem 200. Geburtstag haben der Heidelberger Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer und der Bluthochdruck-Forscher Detlev Ganten nun eine Doppelbiographie dieser Geistesgrößen vorgelegt, die jedoch Virchow zu Lasten von Helmholtz die weitaus größere Aufmerksamkeit widmet. So verschwimmt leider, was den Pionieren moderner Wissenschaft gemeinsam ist. Deutlich wird das nur im Ausgang von Virchows berühmtem Credo: „Die Aufgabe der Naturforschung ist, die Eigenschaften der Naturkörper […] zu verfolgen und so die Gesetze erkennbar zu machen, nach denen sich der Lauf der natürlichen Vorgänge regelt.“

Helmholtz verpackt 1869, in einem Vortrag „Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft“, ein ähnliches Bekenntnis in ein Lob des Eigenen: Preußen sei weltweit führend in der Medizin geworden, „weil bei uns eine größere Furchtlosigkeit vor den Consequenzen der ganzen und vollen Wahrheit herrscht als anderswo“. Beide verabschieden sich von den Spekulationen romantischer Naturphilosophie, lassen nur empirisch ermittelte, meßbare Tatsachen zu, beschränken sich bei der Analyse von Lebensvorgängen auf physikalische-chemische Abläufe. Sie verbannen religiös-weltanschauliche Wünsche aus naturwissenschaftlicher Arbeit.

Für Virchow hat die Vielfalt der Natur ihren Ursprung in der Zelle. In ihr, deren Rätsel bis heute längst nicht gelöst sind, fand er das einheitliche Bildungsprinzip aller Organismen. Helmholtz fand ein anderes einheitliches Prinzip aller Naturvorgänge in der „Kraft“ oder „Energie“. In allen Lebensprozessen, so schrieb er 1847 in seinem Vortragsmanuskript „Über die Erhaltung der Kraft“, bleibe die Energie konstant. Für den Leser wichtige Brücken von dieser fundamentalen Wahrheit zu anderen Forschungsfeldern, auf denen Helmholtz brillierte, der physiologischen Optik und Akustik, der Elektrodynamik, Geometrie und Erkenntnistheorie, schlagen die Autoren nicht.

Helmholtz, 1887 erster Präsident der von ihm konzipierten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, 1883 geadelt und als „Reichskanzler der Physik“ verehrt, betätigte sich jenseits der Wissenschaft nicht weiter politisch. Außer einem „vage empfundenen Preußentum“ habe er keinerlei politische Überzeugungen gehegt. Daher droht wohl dem Namen der 1995 gegründeten Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren bislang noch keine „Cancel Culture“. Ganz anders Virchow. Bereits dessen Promotionsthese – „Nur der liberale Geist kann Einblick in die Natur der Medizin gewinnen“ – verriet, daß sich hier ein „ganzheitliches“ Verständnis von Naturforschung ankündigte, das Erkenntnisse auch politisch ziehen wollte.

Seine Zellentheorie, die mit der Metapher des „Zellenstaates“ operiert, dessen „Elemente“ gleichberechtigt aufeinander angewiesen seien, folgt offenkundig den demokratischen Idealen ihres Urhebers. So engagierte sich Virchow 1848 als Barrikadenkämpfer, als Mitbegründer der liberalen Fortschrittspartei, als Berliner Stadtverordneter und als Sozialreformer. Virchow war Gegner der Kolonialpolitik, doch Philipp Osten, seit 2017 Direktor des Medizinhistorischen Museums Hamburg, monierte in der taz, daß er in Anatomievorträgen über „die schwarze Hautfarbe und die aufgeworfenen großen Lippen, welche für den Negertypus so charakteristisch sind“, dozierte – eine Aufforderung zur Umbenennung der Virchow-Kliniken?

Peinlichstes Manko dieser Doppelbiographie ist die Vernachlässigung der spezifischen Faktoren preußisch-deutscher Wissenschaftskultur. Der Virologe Christian Drosten und die Chemie-Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier (Genschere Crispr/Cas9) werden daher zu legitimen Erben der beiden Wilhelminer erklärt: Denn was Helmholtz und Virchow gelang, das sei, technologisch perfektioniert, jederzeit wiederholbar. Gerade in Berlin mit seiner „bunten Bevölkerung“ lasse sich „die Idee des Humanen“ bis 2030 in Form einer „Gesundheitsstadt“ umsetzen. Im Zukunftsort Berlin-Buch sei das Miteinander von Politik, Wissenschaft, Biotech-Firmen und „grüner Zivilgesellschaft“ bereits Realität. Doch die Botschaft des wirren Schlußkapitels läßt sich erklären: Detlev Ganten war Gründungsdirektor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) in Buch, Vorstandschef der Charité und ist inzwischen als 80jähriger bei den „grünen“ Scientists for Future engagiert.

Berliner Medizinhistorisches Museum:

 www.bmm-charite.de

 www.helmholtz.de

Ernst Peter Fischer, Detlev Ganten: Die Idee des Humanen. Rudolf Virchow und Hermann von Helmholtz. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2021, 264 Seiten, gebunden, 26 Euro

Foto: Rudolf Virchow (o.), Herman von Helmholtz (l.): Die damalige deutsche Wissenschaftskultur spornte zu Höchstleistungen an