© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Sie schießen bereits
Eng verbunden mit dem Wald: Durch den feuchten Sommer startet die Pilzsaison früher
Bernd Rademacher

Der Altweibersommer als Vorbote des Herbstes steht vor der Tür – und mit ihm die Pilzsaison in Wald und Flur. Doch wegen des niederschlagsreichen und feuchtwarmen Sommers schießen die Schwammerln schon früher wie, nun ja, eben wie Pilze aus dem Boden.

Pilze sind nicht nur schmackhaft, sondern auch wichtige Funktionsträger in der Natur: Sie verwerten organischen Abfall zu Humus. Doch sie tun dies auf verschiedene Arten. Manche besiedeln totes Material wie Laub. Die Aggressiven befallen lebende Organismen und lassen sie absterben. Doch viele leben in einer symbiotischen Zweckgemeinschaft mit Bäumen. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Das Pilzgeflecht liefert Wasser und Mineralien, die Pflanze spendet Zucker und Eiweiß. Nach den Insekten sind die Pilze die artenreichste Gruppe von Lebewesen auf der Erde. Pro Quadratmeter Waldboden finden sich eine Milliarde Myzelien. Die Hälfte aller Schwebepartikel in der Luft sind Pilzsporen. Pilze haben sich spezialisiert auf das Leben in Mooren, auf Magerrasen, am Strand, in Dünen und auf der Heide. 

Doch das klassische Pilzrevier bleibt der Wald. Unter Fichten und Kiefern wachsen Maronen, Steinpilze sind in Buchen- und Fichtenbeständen zu Hause, Pfifferlinge lieben Tannen. Der Mohrenkopf-Milchling kommt ausschließlich in feuchten Fichtenwäldern vor – aber ob der heute noch so heißen darf? Der Koloß unter den Speisepilzen ist der Riesenbovist, der auf Wiesen und Weiden steht. Das feste, weiße Fleisch des fußballgroßen Giganten läßt sich wie Schnitzel panieren und braten oder zu Gulasch verarbeiten.

Doch Achtung: Ackergifte und Überdüngung stellen ein Gesundheitsrisiko für Pilzgenießer dar. Auch in Stadtparks und an Straßenrändern sollte man die Pilze wegen der Schadstoffbelastung lieber stehenlassen. Und es lauern noch größere Gefahren auf Funghi-Freunde. In Westfalen wurde ein Pilzsammler, der vor Sonnenaufgang auf Knien und Ellbogen am Waldsaum auf dem Boden herumrutschte, um Haaresbreite von einem Jäger erschossen, der die Silhouette für ein Wildschwein hielt.

Aber auch die Pilze selbst sind nicht immer harmlos, mancher hat einen giftigen Doppelgänger: Das Stockschwämmchen sieht dem Gifthäubling ähnlich, der Habichtspilz wird leicht mit dem Gallenstacheling verwechselt. Jeder Pilzsammler braucht daher unbedingt ein gutes Bestimmbuch. Volkshochschulen und der Naturschutzbund bieten vielerorts Lehrexkursionen an. Unerfahrene Sammler sollten ihren Fund vor dem Genuß einem geprüften Pilzsachverständigen der Deutschen Gesellschaft für Mykologie (DGfM) vorlegen.

Wieviel darf ich pro Tag sammeln?

Nicht umsonst hat der Pilz auch einen festen Platz in der Mythologie und der Märchenwelt, da die halluzinogene und berauschende Wirkung mancher Pilze schon seit der Frühzeit bekannt ist. Treten nach dem Pilzverzehr Schweißausbrüche, Durchfall, Schwindel und Benommenheit auf, besteht der Verdacht einer Vergiftung. Liegt die Mahlzeit noch nicht länger als fünf Stunden zurück, hilft es, den Magen durch Erbrechen zu entleeren – Pilzreste im Erbrochenen zur Bestimmung sichern. Kommt es erst nach acht und mehr Stunden zu Symptomen, schnellstens den Notarzt rufen! 

Hat man aber die richtigen Exemplare erwischt, steht einer kulinarischen Köstlichkeit nichts mehr im Wege. Pilze haben wenig Nährwert, aber viele Vitamine und Mineralstoffe. Ihr typisches Aroma entfalten sie beim Zubereiten – ob geschmort, gebraten, als Risotto oder auf dem Grill. Ob klassisch mit Butterschmalz in der Pfanne gedünstet oder mit Balsamico mariniert auf Bruschetta – Pilze sind nicht nur lecker, sondern auch vielseitig. Nur zu spät am Abend sollte man sie nicht essen, da sie nicht besonders leicht verdaulich sind.

Wie viele Pilze darf ich überhaupt sammeln? Als Faustregel gilt: pro Person und Tag nicht mehr als ein Kilo. Dabei die Pilze nicht herausreißen, das schädigt das unterirdische Myzelgeflecht. Schutzgebiete gelten natürlich auch für Pilzsammler. Daß rund ein Drittel der etwa viereinhalbtausend Pilzarten in Deutschland auf der Roten Liste steht, ist übrigens nicht die Schuld von Feinschmeckern im Forst: Das Bundesamt für Naturschutz erklärt, daß fachgerechtes Kappen der oberirdischen Fruchtkörper für den Pilzbestand unbedeutend ist. Doch Intensiv-Holzwirtschaft, Monokulturen und Überdüngung schädigen die Waldpilze, was ihre Symbiosegenossen, die Bäume, ebenfalls in Mitleidenschaft zieht: Ohne Wurzelsymbionten kein Wald.