© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Der Flaneur
Keine Chance zu versumpfen
Paul Leonhard

Hoch oben über dem Fluß haben findige Geschäftsleute eine Goldgrube entdeckt. Auf grünem Rasen stehen zwei Bretterbuden aus dem Baumarkt, in der einen wird Bier und Limonade ausgeschenkt, aus der anderen Eis gereicht. Daneben mixen in einem Campingwagen zwei junge Frauen Cocktails und schieben belegte Baguettes in den Ofen. Abseits ein blaues Dixi-Klo. Die Geschäftsleute haben an alles gedacht, auch an ein paar rustikale Tische mit Bänken unter dem Schatten alter Bäume. Das Beste aber sind die Liegestühle. Es sind wacklige Dinger aus Holzleisten und dünnem Tuch, Werbegeschenke verschiedener Brauereien.

Ich stelle mein Bier auf eine grün angestrichene Kiste, die als Tisch dienen soll. Ich wackle am Stuhl, ziehe am Stoff und lasse mich dann vorsichtig nieder. Es hält. Ich strecke die Füße aus, nehme einen Schluck und lehne mich genüßlich zurück.

Als die Sonne hinter den Häusern verschwindet, wird es plötzlich spürbar kühler.

Vor mir thront auf einem Felsen ein mächtiges Gotteshaus. Ohne die beiden später errichteten Zwillingstürme würde das Kirchenschiff noch gewaltiger wirken. Wie Spielzeug sehen dagegen die Häuser aus, die sich entlang des Ufers ziehen oder krummen Gassen folgen, die sich nach oben winden. 

Der Fluß strömt weiß schäumend in Richtung Norden. Auf Sandinseln stehen bewegungslos Angler. Ein Stück flußaufwärts blinkt und glitzert es ununterbrochen. Hier rinnt das Wasser eine kleine Staustufe hinab, die, da der Fluß zwei kleine Schleifen nimmt, in ihrer ganzen Breite zu sehen ist. Ein Stück weiter spannt sich eine Stahlbrücke von einem Ufer zum anderen.

Den ganzen Tag könnte man hier verträumen. Versumpfen kann man nicht, denn es herrscht Selbstbedienung. Es gilt also, sich vor jedem neuen Bier aus dem Liegestuhl zu hieven. Mein Nachbar probiert es gerade, schafft es im vierten Anlauf und verkündet seinem Freund seinen Meinungswechsel: Es sei wohl doch besser zurückzugehen.

Die Sonne verschwindet hinter den Häusern. Die mein Gesicht eben noch wärmenden Strahlen sind weg. Mit einem Schlag wird es kühler. Die Besitzer der Bretterbuden und des Campingwagens machen Feierabend. Mücken kommen in Scharen. Eine Frau sammelt die unbesetzten Liegestühle ein und klappt sie zusammen. Die Rathausuhr schlägt die neunte Stunde.