© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Nicht nur die Adler sind gelandet
Afghanistan: Mit Abschluß der Evakuierungen endet der Bundeswehreinsatz der Bundeswehr / Nur wenige Ortskräfte dabei
Peter Möller

So eine Szene hat es in der Geschichte der Bundeswehr noch nicht gegeben. Nach der Ankunft der deutschen Soldaten von ihrer Evakuierungsmission in Kabul auf dem Fliegerhorst Wunstorf am Freitag vergangener Woche umarmt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) den vor ihr angetretenen Kommandeur der Luftlandebrigade 1, Brigadegeneral Jens Arlt, innig. Der mit einem Sturmgewehr G36 bewaffnete General hatte der Ministerin zuvor nach der Rückkehr seiner Soldaten Meldung erstattet. Arlt, 52 Jahre alt und einst Offizier im Kommando Spezialkräfte (KSK), hatte während der Mission ununterbrochen auf seinem Posten im Flughafen Kabul ausgeharrt.

Die Szene, die auf nüchterne Beobachter sonderbar, ja übergriffig wirkt, wird in die Geschichte der Bundeswehr eingehen. Vieles spricht derzeit dafür, daß auch Politiker der politischen Linken in Deutschland angesichts der Ereignisse in Afghanistan ihr Verhältnis zur Bundeswehr zumindest überdenken werden. Denn die Truppe hat unter Einsatz des Lebens deutscher Soldaten das gemacht, was in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik nicht erst seit 2015 ganz besonders hoch im Kurs steht: „zu schützende“ Menschen aus einer fernen Weltgegend nach Deutschland geholt.

Gleichzeitig drückt die Umarmung Kramp-Karrenbauers Erleichterung über den glücklichen Abschluß der Mission aus, mit dem vermutlich ihr politisches Überleben gesichert wurde. Wären Bundeswehrsoldaten dabei zu Schaden gekommen, hätte sie – wie angekündigt – von ihrem Amt zurücktreten müssen. Wie groß die Gefahr für die eingesetzten Soldaten war, zeigt auf tragische Weise der Tod von 13 amerikanischen Marines bei einem Selbstmordanschlag am Flughafen von Kabul.

Entsprechend wurde der Einsatz von den politisch Verantwortlichen gewürdigt. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fordert unter dem Eindruck der erfolgreich abgeschlossenen größten Evakuierungsmission in der Geschichte der Bundeswehr, „alle Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz waren, sollten das Bundesverdienstkreuz oder eine vergleichbare Ehrung bekommen“. Für ihn seien „unsere Soldatinnen und Soldaten wahre Helden“, sagte er der Bild am Sonntag. Zugleich müsse sich Deutschland auf mehr robuste Einsätze der Bundeswehr einstellen, wenn man wirklich mehr Verantwortung übernehmen wolle. Ohne die Absicherung durch die amerikanischen Streitkräfte wäre auch die Evakuierungsmission nicht möglich gewesen. Ähnlich hatte sich zuvor der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, geäußert. „Wir müssen auch ohne die Amerikaner in der Lage sein, so einen Flughafen wie in Kabul zu sichern“, sagte Laschet. Die kommenden Monate würden zeigen, ob sich die parteiübergreifend festzustellende neue Begeisterung für die Bundeswehr auch in den zur Erhaltung und zum Ausbau der Einsatzfähigkeit nötigen Investitionen niederschlagen wird.

Doch die Bilanz der nur wenige Tage dauernden Luftbrücke von Kabul über Taschkent nach Deutschland ist auch so beachtenswert: Während ihrer Evakuierungsmission unter dem Schutz von Fallschirmjägern hat die Bundeswehr mit dem Militärtransporter A400 4.587 Menschen von Kabul nach Deutschland gebracht. Darunter waren nach Angaben des Bundesinnenministeriums 3.849 Afghanen, 403 Deutsche sowie Menschen aus anderen Ländern.

„Deswegen nehmen wir diese Risiken in Kauf“

Doch es gibt mittlerweile auch kritische Stimmen. Denn eine andere Zahl im Zusammenhang mit den Ausgeflogenen sorgt für Irritationen. Demnach sind über die Luftbrücke aus Kabul 138 Ortskräfte nach Deutschland gebracht worden. Begleitet wurden sie nach Angaben des Bundesinnenministeriums von 496 Angehörigen. Insgesamt seien also 634 Menschen aus dieser Gruppe ausgeflogen worden, teilte ein Sprecher des Ministeriums mit. Vor Beginn der Evakuierung am 14. August habe das Innenministerium Kenntnis davon gehabt, daß 174 Ortskräfte sowie Familienangehörige für die gesamte Bundesregierung zur Ausreise anstehen, insgesamt 886 Menschen, so der Sprecher. Es ging dabei um die Afghanen, die aktiv eine Gefährdungsanzeige gemacht hatten und auf Listen standen.

Der geringe Anteil von Ortskräften, deren Rettung ja laut der Bundesregierung vorrangiges Ziel der Luftbrücke war, hat im politischen Berlin für Verwunderung gesorgt. Denn das bedeutet, daß offenbar viele der Ortskräfte bislang noch nicht ausgeflogen werden konnten, gleichzeitig stellt sich die Frage nach den Identitäten der nach Deutschland geholten Afghanen. „Das Auswärtige Amt sollte umgehend öffentlich machen, wer die Afghanen sind, die nach Deutschland ausgeflogen wurden, und wie viele davon Ortskräfte sind“, forderte der Innenexperte der Unionsfraktion, Hans-Jürgen Irmer (CDU) in der Bild-Zeitung.

Für den Spitzenkandidaten der AfD, Tino Chrupalla, wecken diese Zahlen Zweifel an den Motiven der Evakuierungsmission. „Die Debatte um die Ortskräfte war von Anfang an eine Türöffner-Debatte für die Ansiedlung von Migranten, die gar keine Ortskräfte sind. Die Bundesregierung muß sofort genaue Auskunft darüber erteilen, welche Personen sie aus welchem Grund hat einfliegen lassen“, forderte Chrupalla. Zudem müsse geklärt werden, ob bekannte Gewalttäter erneut nach Deutschland geholt worden seien.

Damit spielt der AfD-Vorsitzende auf Meldungen an, nach denen sich unter den von der Bundeswehr aus Kabul evakuierten Afghanen auch mehrere Straftäter befunden haben. Das Bundesinnenministerium teilte in diesem Zusammenhang mit, bei einer „niedrigen einstelligen Zahl“ von evakuierten Personen sei bei der Einreise festgestellt worden, daß sie hier bei der Polizei auffällig geworden seien. Einen Mann habe man in Haft genommen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach im Zusammenhang mit den erst in Deutschland stattfindenden Sicherheitsüberprüfungen von einem pragmatischen Verfahren. Das sei mit Risiken verbunden. „Aber wir haben in den vergangenen Wochen eine Notlage erlebt, und deswegen nehmen wir diese Risiken in Kauf“, so ein Sprecher seines Ministeriums. Seehofers Angaben zufolge wurde unter den Afghanen bislang immerhin kein Terrorverdächtiger entdeckt. 

So bedenklich derlei Meldungen mit Blick auf die innere Sicherheit und die Akzeptanz der Bevölkerung für die Rettung von Afghanen vor den Taliban auch sind, auf die politische Diskussion haben sie bislang kaum Auswirkungen. Vor allem Vertretern von Linkspartei, Grünen und SPD reicht die Zahl der ausgeflogenen Afghanen noch lange nicht. Sie fordern bereits, neben den Ortskräften, zu denen in diesem Zusammenhang in einer weitgefaßten Auslegung auch Mitarbeiter von zivilen Organisationen gezählt werden, möglichst großzügig weitere Afghanen aufzunehmen. In der vergangenen Woche sprach etwa die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock im ARD-Sommerinterview von deutlich über 50.000 Personen, die aus Afghanistan evakuiert und nach Deutschland geholt werden müßten. Nach dem Ende der militärischen Luftbrücke wäre die Evakuierung zusätzlicher Afghanen allerdings nur noch mit zivilen Maschinen möglich. Doch war bekannt geworden, die Taliban hätten der Bundesregierung zugesichert, daß Afghanen auch nach dem Ende der militärischen Luftbrücke das Land verlassen könnten. 

Dagegen forderten Söder und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt von der Bundesregierung, die Nachbarstaaten Afghanistans finanziell zu unterstützen. Ziel müsse sein, die Flüchtlinge aus Afghanistan in erster Linie in der Region selbst zu versorgen. „2015 darf sich nicht wiederholen“, forderte der CSU-Chef nach einer virtuellen Präsidiumssitzung. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte am Montag, dies sei „sicherlich auch Thema der Gespräche“ von Außenminister Heiko Maas (SPD), der in einige Nachbarstaaten Afghanistans gereist war. Die Bundesregierung habe in der vergangenen Woche „schon ein erstes Paket von 100 Millionen Euro humanitärer Hilfe zur Verfügung gestellt, die zum einen für die Grundversorgung von notleidenden Menschen in Afghanistan über die Vereinten Nationen, aber auch für humanitäre Hilfe in den Nachbarstaaten Afghanistans gedacht ist“, ergänzte der Sprecher. Ein weiteres Paket von 500 Millionen Euro sei angekündigt, auch mit dem Ziel, „die Folgen für die Stabilität in der Region abzufedern“.

Unterdessen brachte die Evakuierungsaktion auch ans Licht, was man etwa im Bundesinnenministerium gar nicht gern sieht, wogegen man jedoch machtlos sei: daß nämlich Afghanen, die in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt sind, in ihr Herkunftsland reisten – und nun gefahrvoll evakuiert werden mußten oder noch müssen. Zwar könne man, hieß es im Ministerium, in Einzelfällen den Status aufgrund dessen überprüfen, einen Automatismus gebe es jedoch nicht. Nur Geduldete verwirkten mit einer Reise ins Herkunftsland ihren Status. Genaue Zahlen, wie viele Afghanischstämmige aus Deutschland zwischenzeitlich in Afghanistan waren oder sind, gibt es offiziell nicht. Der Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte jedoch, vor etwa zwei Wochen sei man von einer hohen zweistelligen Zahl von Deutschen in Afghanistan ausgegangen. Angesichts von 300 zu evakuierenden Deutschen stand fest, daß sich ein Großteil von denen „in der Vergangenheit nicht auf Listen der deutschen Botschaft registriert“ hatte. „Deswegen liegt die Vermutung nahe, daß viele von ihnen persönlich im Land verwurzelt sind.“

Foto: Soldaten steigen auf dem Fliegerhorst Wunstorf aus den Transportmaschinen der Luftwaffe: Umfangreichste deutsche Luftbrücke seit dem Zweiten Weltkrieg