© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Das Ende der Titanen
Paul Rosen

Vor bald 50 Jahren erlebte die Bundesrepublik unruhige Zeiten. Linksterroristische Anschläge erschütterten die innere Sicherheit. In Bonn führte die Ost- und Deutschlandpolitik von Willy Brandt (SPD) und Walter Scheel (FDP) zu einem tiefen Riß durch die Gesellschaft. Die Bundestagswahl 1972 brachte einen Triumph für Brandt. Damals zog für den Wahlkreis Offenburg ein junger Abgeordneter in den Bundestag ein: Wolfgang Schäuble. 2021, fast 50 Jahre später, tritt er wie schon bei allen Wahlen seit 1972 im Wahlkreis Offenburg an, und es gibt kaum Zweifel, daß er das Direktmandat erneut holt.  

Schäuble hat alle Höhen und Tiefen erlebt. Seine Verwicklung in die Spendenaffäre kostete ihn den CDU-Vorsitz und vielleicht auch die Kanzlerschaft. Immerhin wurde er 2017 Bundestagspräsident und hat somit einen höheren protokollarischen Rang als seine frühere Widersacherin Angela Merkel. Schäuble ist ein Titan der Politik – so wie damals Brandt, Scheel, Rainer Barzel und Franz Josef Strauß. Die Krönung seines Lebenslaufs und -werks stellt für ihn eine zweite Präsidentschaft des Deutschen Bundestages dar.

Doch es gibt erste Zweifel, ob dies noch gelingen und Schäuble seinen 80. Geburtstag am 18. September 2022 als Bundestagspräsident feiern kann. Denn überraschend hat sich die SPD in mehreren Umfragen vor die Union geschoben. Bliebe dies bei der Bundestagswahl so, würde der SPD wieder das Amt des Bundestagspräsidenten zustehen. Im Unterschied zu 1972 kann die SPD allerdings nichts für ihren Höhenflug. Es liegt allein an der Schwäche der Union und ihres Kandidaten Armin Laschet. Von Titanen der Politik redet heute niemand mehr, allerdings auch bei der SPD nicht, deren Führungspersonal vielleicht mit Ausnahme des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz ebenso farblos und austauschbar wirkt wie das der Union. 

Daß Dagmar Ziegler (SPD) Bundestagsvizepräsidentin ist, ist allenfalls Eingeweihten des Politikbetriebs bekannt, der breiten Öffentlichkeit nicht. Der Union droht weiteres Ungemach. Bisher war man davon ausgegangen, daß sie die mit Abstand meisten Direktmandate gewinnen würde. Ihr Absturz würde jedoch weniger Ausgleichsmandate erfordern. Szenarien eines Super-Bundestags mit 800 und mehr Abgeordneten hätten sich erledigt, und die bisher insgeheim gemachte Rechnung der Union, drohende Mandatsverluste durch eine Aufblähung des Bundestages kompensieren zu können, würde nicht mehr aufgehen.

Denn besonders die einst erfolgsverwöhnte CSU schwächelt. Eine Umfrage sieht den Verlust aller sieben Münchener Wahlkreise voraus. Sechs sollen an die Grünen gehen, der Münchener Norden an die SPD. Dies liegt nicht nur an Laschets Kandidatur, sondern auch an den farb- und substanzlosen CSU-Kandidaten. In München gibt es keine jenseits der Stadtgrenzen bekannten CSU-Kandidaten wie früher Johnny Klein, Peter Gauweiler oder Johannes Singhammer. Die Zeit der Titanen ist auch in der CSU vorbei.