© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Weil die Antifa zu weiß ist
„Migrantifa“: Die neue linksradikale Bewegung setzt auch auf Identitätspolitik
Björn Harms

Seit geraumer Zeit hat sich in der linksradikalen Szene eine Gruppierung etabliert, die sich selbst „Migrantifa“ nennt. Das Kunstwort verrät bereits, was gemeint ist: Migranten und Kinder von Einwanderern versammeln sich unter dieser Losung in antifaschistischen Strukturen. Migrantifa als Begriff gewann erstmals nach dem Terroranschlag in Hanau im Februar 2020 an Bedeutung (JF 10/20). Das Attentat kann somit auch als Gründungsmoment verstanden werden. In Berlin entwickelte sich ab April 2020 die wohl größte Ortsgruppe. Doch auch in Städten wie Hamburg, Stuttgart, Duisburg, Hannover, Leipzig und in Bundesländern wie Hessen oder Nordrhein-Westfalen gründeten sich gewichtige Ableger. Einen streng hierarchisch gegliederten Dachverband gibt es dabei nicht. Man organisiert sich lokal. Aufgrund der losen Strukturen tauchen die einzelnen Gruppen auch nicht in den Verfassungsschutzberichten auf.

Wozu aber brauchte es die Gründung dieser neuen Bewegung in der linken Szene? Kaum verwunderlich: Die Migrantifa ist ein Kind der postmodernen Identitätspolitik. „Klassische linke Strukturen wie auch die Antifa in Deutschland sind mehrheitlich weiß dominiert und geben dem Kampf gegen rassistische Unterdrückung nicht genügend Raum“, erklärte eine Vertreterin im Juni 2020 in der taz. „Der große Unterschied zu weißdeutschen linken Strukturen ist, daß wir per se durch unsere Körper politisch sind. (...) Wir haben uns (…) unter dem Label Migrantifa zusammengefunden, um auf die gemeinsamen Erfahrungen mit rechtem, rassistischem und antisemitischem Terror aufmerksam zu machen und uns zu organisieren.“

„Unterabteilung des deutschen Staatsantifaschismus“

Ganz neu ist das Konzept einer migrantischen Antifa dabei nicht. Zum Teil wurzelt die Strömung in älteren Strukturen wie etwa der Antifaşist Gençlik, die sich Ende der achtziger Jahre aus Migranten verschiedenster Jugendbanden Berlins rekrutierte. Selbst deutsche Linksradikale gingen damals auf Distanz, da ein neues Level von Gewalt mit ins Spiel gebracht wurde. Diese mündete 1992 etwa in den Mord an dem rechten Politiker Gerhard Kaindl (JF 16/07). Im November 1994 wurden sieben türkische und kurdische Linksradikale zu Bewährungsstrafen von fünfzehn Monaten und Haftstrafen bis zu drei Jahren verurteilt, ein weiterer Angeklagter wurde freigesprochen. Schon kurz danach zerbrach Antifaşist Gençlik – auch weil es auf Treffen untereinander immer wieder zu Konflikten und sogar Massenschlägereien kam.

In einem Interview mit dem linken Blog „korientation“ zog ein Sprecher der Migrantifa Hessen im Mai 2020 direkte Verbindungen zur ehemaligen Gruppe: „In unserem Kampf gegen Rassismus beziehen wir uns auch auf die Kämpfe anderer marginalisierter Menschen, die bereits vor unserer Gründung ausgetragen wurden, so auch auf Antifa Gençlik. An Antifa Gençlik schätzen wir besonders, daß sie viele Migranten und Migrantinnen aus ärmeren Vierteln mobilisieren konnten. Dies wollen wir auch tun. Wir wollen insbesondere Menschen für uns gewinnen, die keinem akademischen Umfeld entstammen und die sich bisher noch nie politisch engagiert haben.“

Ungewollt sprach der Vertreter hiermit einen wunden Punkt aus Sicht der Antifa an. Denn in den vergangenen Jahrzehnten hat sich das linke Milieu weiter „studentisiert“. Wie das Vorbild Antifa Gençlik könnte nun auch die Migrantifa die Militanz auf den Straßen beleben, wenngleich aus eigenen Kreisen auf den „zivilgesellschaftlichen Anspruch“ verwiesen wird. Ein Unterschied zu den Vorgängern aus den achtziger und neunziger Jahren besteht vor allem in der ethnischen Zusammensetzung. Während sich Antifaşist Gençlik ausschließlich aus türkischen und kurdischen Jugendlichen zusammensetzte, geben bei der Migrantifa zunehmend auch schwarze Migrantenkids den Ton an. Die BIPoCs (Black, Indigeneus and People of Color) sind in den Debatten um Rassismus omnipräsent. Da in der „woken“ Logik sich auch nur Leute mit Rassismuserfahrung über Rassismus äußern dürfen und Weiße per se keinen Rassismus erleben können, beherrschen erstere in der linken Szene den Diskurs nach Belieben. Häufig finden sie damit auch im medialen Mainstream Gehör.

Hier ist zudem eine Schnittstelle zum Staat erkennbar. In Berlin etwa gibt es immer wieder gemeinsame Pressemitteilungen und Aktionen der örtlichen Migrantifa und schwarzen Lobbyvereinen wie „Initiative Schwarze Menschen“ oder „Each One Teach One“ (Eoto), die großzügig über das Programm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert werden. Im Fall von Eoto sind dies immerhin knapp 500.000 Euro jährlich. Vom Staat geförderte Lobbygruppen arbeiten also eng mit der linksradikalen Szene zusammen. Auch zu den „neuen deutschen organisationen“ (ndo), der wohl einflußreichsten Migrantenlobbygruppe in Deutschland, die jährlich rund 300.000 Euro an staatlichen Geldern einstreicht, gibt es enge Beziehungen. Ndo-Sprecherin Ferda Ataman erwähnt das Phänomen Migrantifa immer wieder positiv in der Öffentlichkeit und wirbt für deren Veranstaltungen. 

So wurden auch die deutschen „Black Lives Matter“-Demonstrationen in Berlin und Köln im Sommer 2020 größtenteils von Migrantifa-Gruppen organisiert. Wenig verwunderlich also, daß als zentrales Vorbild der Migrantifa die „Black Lives Matter“-Bewegung aus den USA dient. Deren Schlachruf „Defund the Police“ übernimmt man auch für Deutschland. Man wolle hierzulande die „Polizei abschaffen“, erklärte eine Aktivistin in der taz. „Sie schützt die Bürger:innen nicht, sondern die Herrschenden und die Besitzverhältnisse.“ Gleichzeitig sorgt der Auftritt der Migrantifa auch für hitzige innerlinke Diskussionen. Im Kern geht es um das Verhältnis zu Israel. 

Auf mehreren Kundgebungen, die von der Migrantifa organisiert wurden, sprachen Gruppen, die Israel als Apartheidstaat verurteilen und mit der BDS-Bewegung sympathisieren. Die ersten Diskussionen setzten bereits im Frühjahr 2020 ein, als auf einer Demonstration der Migrantifa Hessen die Evakuierung des griechischen Flüchlingslagers Moria gefordert wurde, Israel als „Kolonialstaat“ bezeichnet, „Palestine will be free – from the river to the sea“ gesungen und und mit „Yalla Intifada“-Rufen auf Terror gegen Israel angespielt wurde. Auf der „Revolutionären 1. Mai-Demo“ in Berlin im vergangenen Jahr, bei der die Migrantifa erstmals Mitorganisator war, lief an der Spitze des Migrantifa-Blocks auch eine palästinensische Gruppe mit, die das Existenzrecht Israels in Frage stellt.

Doch während die Migrantifa ihren Einfluß ausweitet und in Antifa-Kreisen mittlerweile den Ton angibt, müssen kritische Stimmen, etwa aus den Reihen der Pro-Israel-Fraktion, in linken Szenekreisen den Rückzug antreten. Antirassistische Identitätspolitik entwickelt sich zum zentralen Bezugspunkt der Antifa. In der Zeitschrift Bahamas, die einstmals aus dem linksradikalen, antideutschen Milieu entstand, deutete der Autor Jonas Dörge die Migrantifa deshalb jüngst als „neue Unterabteilung des deutschen Staatsantifaschismus“. Staat und Antifa bildeten keinen Gegensatz mehr. „Das larmoyante Herumreiten auf der eigenen Identität und dem eigenen Körper ist ebenso wie das komplementäre Anprangern abstrakter rassistischer Strukturen konstitutiver Bestandteil des postmodernen Diversitätsparadigmas, das sowohl vom Staat, dessen Bildungsinstitutionen als auch in der Arbeitswelt und der neuorganisierten Kulturindustrie zunehmend die Gesellschaft dominiert.“

Für die „Profiteure des herrschenden Systems“ habe dies einen entscheidenden Vorteil: Die „zermürbenden Lebensverhältnisse“ der heutigen Zeit würden „beim permanenten Therapeutisieren im Namen der Vielfalt nicht mehr in den Blick geraten“.