© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Verkehrte Welt
Afghanistan: Die Taliban, gefangen zwischen moderatem und islamisch- offensivem Verhalten
Jörg Sobolewski

Mit dröhnenden Turbinen heben die letzten Transportflugzeuge der U.S. Army vom Flughafen Kabul in den nachtschwarzen Himmel Afghanistans ab. Mit ihnen verläßt der letzte US-Soldat, Generalmajor Christopher Donahue, den Schauplatz des zwei Jahrzehnte dauernden Ringens. „Sieg der Taliban“, liest man in allen Gazetten. Am Boden rückt derweil die Badri-313-Eliteeinheit der Gotteskrieger in die Liegenschaften am Flughafen ein und nimmt weitere zurückgelassene Militärtechnik in Empfang. 

Die bärtigen Männer haben mit ihren Vorgängern von vor zwanzig Jahren nur noch den Namen gemein, so scheint es. Ihr Ausbildungsstand und ihre Ausrüstung haben sich geändert. Die neuen Taliban sind nachtkampffähig und luftverlegbar, Schätzungen der BBC zufolge verfügen die Taliban über 65 einsatzfähige Transporthelikopter – die Bundeswehr konnte 2019 nur 31 einsatzbereite Modelle der Typen CH-53 und NH90 aufbieten. In Aufrufen im Internet werben die Taliban nun um Piloten und Ingenieure der alten Regierung, bieten Sicherheitsgarantien und Prämienzahlungen. 

Es besteht kein Zweifel, die Taliban sind gekommen, um zu bleiben. Auf dem Papier sind sie nun die Herren über ein aufgerüstetes Land. Doch mit dem Frieden kommt die Verantwortung für eine schwierige Wirtschaftslage. 

Seit der Machtübernahme hat die afghanische Währung, der Afghani, deutlich an Wert verloren. Angestellte und Beamte werden nicht mehr bezahlt. Reserven an Devisen und Edelmetallen der letzten Regierung lagern im Ausland, einstweilen dem Zugriff der neuen Machthaber entzogen. Zusagen für Entwicklungshilfe aus dem Westen liegen derzeit auf Eis, auch wenn die Taliban Akteure wie etwa die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit vor wenigen Tagen baten, zu bleiben. 

Peking zeigt sich zurückhaltend und wartet auf Stabilität

Auch chinesische Direktinvestitionen und Kredite werden nicht im Übermaß fließen. Die Regierung in Peking vergibt zwar gern großzügig Darlehen, setzt dabei aber stets auf stabile Verhältnisse. Überhaupt ist Stabilität das einzige relevante Kriterium für China, und die Taliban müssen erst beweisen, daß sie diese Stabilität liefern können.

Die „letzten US-Besatzer“, wie der Sprecher der Gruppe auf Twitter verkündete, mögen zwar abgezogen sein, doch die Gruppe wird weiterhin mit den ehemaligen Feinden verhandeln müssen. Das ist auch dem US-Außenminister Antony Blinken bewußt. In einer Fernsehansprache seines Ministeriums weist der US-Demokrat die Taliban darauf hin, daß „internationale Legitimität und Unterstützung“ erst verdient werden müßten. Die Türen für Verhandlungen ist nicht geschlossen, aber sie ist nur angelehnt, so die Botschaft aus Washington. 

Es kommt daher auch nicht überraschend, daß die Taliban den Abflug der letzten US-Maschinen mit handverlesenen Einheiten absicherten und schützten. Denn die beiden ehemaligen Kriegsgegner haben nicht nur ein gemeinsames Interesse an einem erfolgreichen Abzug der US-Truppen, sie haben auch einen gemeinsamen Feind. 

In den Jahren der Besatzung hat sich in Afghanistan ein neues Übel aufgetan. Seit 2015 kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen dem Islamischen Staat und den Taliban. Die Gruppe nennt sich in Afghanistan „IS-K “, nach der historischen Provinz Khorasan, und ist sowohl mit den USA als auch mit den Taliban verfeindet. 

Die radikalen Neuankömmlinge werfen den Taliban eine zu konziliante Haltung gegenüber dem „großen Satan“ vor und befinden sich nach eigenen Angaben in einem Kampf um die Herrschaft des „wahren Islams“. Für die Taliban ist die Existenz der Gruppe besonders schmerzhaft, denn der IS-K ist Fleisch vom Fleische. Der pakistanische Talibankommandeur Hafiz Saeed Khan entschloß sich, enttäuscht über die „mangelnde Glaubensstärke“ seiner Kampfgenossen, zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer Führungspersönlichkeiten 2014 zum Abschied und schwor dem Islamischen Staat in Syrien und dem Irak die Treue. 

Seitdem finden sich die Taliban in Afghanistan in einer ungewöhnlichen Rolle wieder. Plötzlich, so scheint es, sind sie die Moderaten, die sich des  Charismas einer radikaleren Gruppe erwehren müssen. Denn tatsächlich ist die Ideologie der Taliban von einer nationalen Erzählung geprägt. Die Einführung der Scharia erfolge nun in Afghanistan, man werde in Afghanistan ein Emirat errichten, so die offizielle Zielsetzung der Taliban. Der Islamische Staat setzt hingegen auf eine globale islamische Revolution. Die schwarze Fahne Mohammeds werde „in Jerusalem und auf dem Weißen Haus wehen“, verkündete ihr Sprecher Sheikh Maqbool im Frühjahr 2015. 

Wenig überraschend, kritisierte der IS-K die Verhandlungen zwischen Taliban und der US-Regierung unter Donald Trump und ließ seinen Drohungen am 26. August 2021 Taten folgen. Trotz diverser Sicherheitsmaßnahmen sowohl durch die Taliban als auch durch die U.S. Army explodierten in der Umgebung des Flughafens mehrere Sprengsätze. Terroristen der Gruppe schossen in die panische Menschenmenge. Über hundert tote Zivilisten und 13 tote US-Soldaten waren die Folge des Angriffs. 

USA flogen Angriffe auf den IS, ohne die Taliban zu fragen

Ein Schlag ins Gesicht für US-Präsident Biden, aber auch eine schwere Niederlage für die Taliban. Denn deren Vertreter hatten eingewilligt, den Abzug der USA zu sichern. Ein Versprechen, das nun nicht mehr erfüllt werden konnte. Ein weiterer Gesichtsverlust für die Taliban: Am darauffolgenden Tag flogen US-Drohnen Angriffe in der Hauptstadt Kabul gegen den IS-K. Die neuen Machthaber in Kabul wurden dafür nicht um Erlaubnis gebeten. Ein Umstand, den Talibansprecher Zabihullah Mujahid scharf kritisierte. 

Doch der Spielraum seiner Regierung ist klein. Auf der einen Seite müssen die Taliban schnell für eine Verbesserung der Sicherheits- und Wirtschaftslage sorgen, um eher weltlich interessierte Gruppierungen im Land zufriedenzustellen. Auf der anderen Seite dürfen sie ihren Rückhalt bei islamischen Interessengruppen und der radikalisierten Jugend nicht verlieren, sonst könnten sie sich schnell in einer Rolle wiederfinden, die ihnen nicht vertraut ist: der Rolle einer Regierung, die gegen eine aggressive Untergrundmiliz in der Defensive ist.

Foto: Christopher Donahue verläßt als letzter US-Soldat Afghanistan: Wer füllt nun das Vakuum?