© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Schluß mit den Transferzahlungen
Belgien: Es knirscht gewaltig zwischen Flamen und Wallonen / Eine Regionsreform soll die Einheit des Landes retten
Mina Buts

Bälle, Hunde, Papierflieger – egal was ab dem 1. September in Nachbars Garten landet: Jeder, der glaubt, ihm seien diese Dinge abhanden gekommen, darf ein fremdes Grundstück betreten und sich das vermeintliche Eigentum zurückholen. „Schrottgesetzgebung!“ schimpft der Bürgermeister der flämischen Gemeinde Glabbeek, Peter Reekmans, und kündigt an, sich zu wehren. 

Eingriffe in das Eigentumsrecht erlebt Belgien allerdings schon seit Jahren: Das prosperierende Flandern wird im Rahmen von milliardenschweren Finanztransfers gezwungen, den wallonischen Landesteil am Leben zu erhalten. Zwölf Milliarden Euro fließen dafür jährlich aus Flandern ab, während gleichzeitig die Schulden der französischsprachigen Gemeinschaft explodieren und nunmehr fast 40 Milliarden Euro betragen. 

Nationalkonservative stemmen sich noch gegen die Teilung des Landes 

Aber nicht nur auf finanzieller, sondern auch auf politischer Ebene liegt in Belgien vieles im argen: In einer so harmonisch klingenden „Vivaldi“-Regierung haben sich Christdemokraten, Liberale, Grüne und Sozialdemokraten aus Wallonien und Flandern vereint. Doch ausgerechnet die größten Parteien aus beiden Landesteilen blieben außen vor. Mittlerweile ist die marxistische Arbeiterpartei PTB in Wallonien gleichauf mit den Sozialisten der PS, in Flandern freut sich die flämische Nationalpartei Vlaams Belang (VB) nicht nur über einen enormen Mitgliederzuwachs von 20 Prozent in einem Jahr, sondern auch über stabile Umfragewerte, die ihn als stärkste Partei in Flandern ausweisen, gefolgt von den Nationalkonservativen der N-VA. 

Zusammen kommen diese beiden Parteien auf annähernd 50 Prozent der Stimmen. Die schon seit Jahren zu beobachtende Tendenz, daß Flandern immer weiter nach rechts und Wallonien immer weiter nach links rückt, verstärkt sich. Und während das Hauptziel von PTB und PS ein starkes Belgien ist, fordert der Vlaams Belang mit der endgültigen Teilung des Landes genau das Gegenteil.  

Den regierenden Parteien wird immer mehr bewußt, daß sie nur dann an der Macht bleiben werden, wenn es ihnen bis zu den nächsten Wahlen 2024 gelingt, eine gründliche Staatsreform zu realisieren. Vordergründig werden die dramatischen Folgen der Coronakrise und des Jahrhunderthochwassers, das vor allem in Wallonien massive Schäden angerichtet hat, genannt. 

Doch Tom Van Grieken, Parteivorsitzender des Vlaams Belang, macht gegenüber der JUNGEN FREIHEIT deutlich, worum es eigentlich geht: Das Überleben der traditionellen Parteien hänge untrennbar mit dem Überleben Belgiens zusammen, denn ohne ihr wallonisches Pendant kämen Liberale, Christdemokraten und Sozialdemokraten gerade mal auf ein Drittel der Stimmen in Flandern. „Der einzige Ort, an dem sie noch politisches Gewicht ausüben können, ist das belgische Staatswesen. Wenn sie also für eine neue Föderalisierung eintreten, dann nur im Interesse ihrer Partei und nicht im Interesse der Menschen, die sie vertreten, den Flamen“, so Van Grieken.

Bart De Wever, Parteivorsitzender der N-VA, hat indes forsch angekündigt, für eine neue Staatsreform sei ein Abkommen mit der größten wallonischen Partei notwendig, eine Zusammenarbeit mit dem Vlaams Belang komme für ihn nicht in Frage.

Er verkennt dabei, daß bei jeder der bisher sechs Staatsreformen immer die stärkste Partei im jeweiligen Landesteil Motor der Reform war, doch das ist schon längst nicht mehr die N-VA. Und: Die Umstrukturierungen haben immer nur funktioniert, solange genügend Geld als Verhandlungsmasse vorhanden war. Auch davon kann bei einer Staatsverschuldung von 417 Milliarden Euro keine Rede mehr sein. 

Die belgische Innenministerin Annelies Verlinden (CD&V) hat nun die Schaffung einer „Dialogplattform“ angekündigt, in der Vorschläge für die Reform des Landes unterbreitet und diskutiert werden sollen. Ihr selbst schwebt vor, aus den bisher drei Regionen ein „2+2“-Modell zu machen: Neben einem flämischen und einem wallonischen Teilstaat solle es auch noch ein Brüsseler und ein ostbelgisches „Teilgebiet“ geben. Die Staatsstrukturen, so ihr Argument, wären damit einfacher und transparenter. 

Doch eine Aufwertung Brüssels können die Flamen nur ablehnen. Bislang wird die Brüsseler Regierung paritätisch mit Flamen und Wallonen besetzt, obwohl nur noch ein Bruchteil der Brüsseler Bevölkerung Flämisch spricht. Niederländischsprachiger Unterricht an den Schulen wird ihnen in ihrer Hauptstadt ebenso garantiert wie Kultur- und Sozialangebote. Es stellt sich auch die Frage, wohin die täglich 250.000 Pendler aus Flandern ihre Steuer entrichten und wo das flämische Parlament und die Regierung angesiedelt werden sollten. Die Flamen wären jedenfalls schlecht beraten, ihre Hauptstadt nach 150 Jahren einfach aufzugeben.

Foto: Anhänger des  Vlaams Belang protestieren in Brüssel gegen die von Wallonen geprägte „Vivaldi“-Regierung: Die flämische Nationalpartei liegt in der Wählergunst an der Spitze