© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Vergessene Gräber, geschlossene Archive
Ukraine: Nahe Odessa wurden jetzt bei Bauarbeiten 29 Massengräber aus der Stalin-Zeit entdeckt / Noch keine exakten Zahlen über Sowjet-Opfer
Paul Leonhard

Massenmorde gehörten seit der Oktoberrevolution 1917 zu ihren Markenzeichen: Wohin auch immer die Kommunisten vordrangen, bedeckten bald die Gräber von Hunderttausenden Gemeuchelten die Erde, egal ob gegnerische Soldaten oder Zivilisten. Ganze Völker wurden massakriert. Die westlichen Demokratien schauten dem Morden zu, auch als dies bei der Vertreibung der Deutschen aus ihren jahrhundertealten Siedlungsgebieten ganz offensichtlich wurde.

Daß die Gerüchte über den millionenfachen Mord keine Übertreibung waren, begriffen westliche Historiker erst, als sich während der Auflösung der Sowjetunion kurzzeitig Archive öffneten. Denn ebenso wie die Nationalsozialisten führten die Kommunisten Stalins über ihre Massenmorde Buch. Und auch in anderen Ländern wurden die Berichte von Augenzeugen mitunter dokumentiert.

Daß jetzt bei Bauarbeiten im Süden der Ukraine 29 Massengräber mit den Gebeinen von 5.000 bis 8.000 Menschen entdeckt wurden, ist keine Überraschung. Es handelt sich um Opfer der großen Säuberungswelle in den dreißiger Jahren. Der in der Schwarzmeerstadt Odessa lebende Historiker Oleksandr Babich hatte in rumänischen Archiven Dokumente entdeckt, die von diesen Morden berichten. 

Wie viele Menschen tatsächlich bei Tatarka verscharrt wurden, ist noch unklar. Sergej Guzaljuk, Regionalleiter des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedächtnis (UINP), nimmt an, daß auf dem nahegelegenen militärischen Sperrgebiet weitere menschliche Überreste zu finden sind.

Auch heute gibt es noch keine exakten Zahlen über die Zahl der innerhalb des Herrschaftsbereichs Stalins ermordeten Menschen. Das Menschenrechtezentrum Memorial in Moskau geht davon aus, daß allein zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren mindestens zwölf Millionen Menschen dem roten Terror zum Opfer fielen. Die Morde begannen während des sowjetischen Bürgerkriegs – erst im Juli 2010 wurden in der Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg die Leichen von 80 zaristischen Offizieren entdeckt – und erreichten ihren Höhepunkt 1937/38.

Die Liste der Massengräber reicht von geschätzten 30.000 Menschen in den Bykivia-Gräbern über weitere 30.000 Tote in Toksovo bei Sankt Petersburg, 18.000 in Jekaterinburg, mindestens 50.000 in Kurapaty bei Minsk, 10.000 in Kommunarda bis hinzu mehr als 20.000 in Butovo. In der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew sind die Massengräber von Uman, Bila, Zerkwa, Tscherkassy und Zhytomyr bekannt.

Eine Identifikation der jetzt gefundenen Opfer sei unmöglich, so Guzaljuk, da die russische Regierung sich weigert, die Dokumente aus den Archiven der sowjetischen Geheimpolizei NKWD bereitzustellen. Druck auf Moskau könnte jetzt nicht nur die ukrainische Regierung ausüben, sondern auch die polnische. Ethnische Polen machten 12,5 Prozent der während des Großen Terrors ermordeten Menschen aus, obwohl ihr Bevölkerungsanteil damals bei lediglich 0,4 Prozent lag.

Historikern gelten die NKWD-Hinrichtungsaktionen gegen die polnische, deutsche, finnische, lettische, estnische, rumänische, griechische und chinesische Minderheit längst als Völkermord.

 Wer Derartiges behauptet oder gar die Massenmorde Stalins mit denen der Nationalsozialisten vergleicht, macht sich allerdings im Rußland Putins strafbar, wie der 2020 zu 13 Jahren Gefängnis verurteilte russische Historiker Jurij Dmitrijev zu spüren bekam. Und die Politiker wollen die geschichtliche Wahrheit ohnehin nicht wissen, weder die im von einem Wiederaufstieg zu einer Weltmacht träumenden Rußland noch die kniend um Versöhnung mit wem auch immer bettelnden im Westen. Dabei werden sie nur von Bauarbeitern gestört, die immer wieder Totenschädel und Knochen finden.