© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Mit voller Wucht getroffen
Finanzmathematiker: Niedrigzinsen schwächen nicht nur die privaten Rentenversicherungen
Dirk Meyer

Die Niedrigzinsphase trifft die Versicherungsbranche mit voller Wucht. Drei Indikatoren zeigen die Auswirkungen. Der Garantiezins, der den Neuversicherten das gegebene Leistungsversprechen der Anbieter absichern soll, sank von 4,0 (bis 2000) auf 1,25 Prozent (2015). Seit 2017 beträgt er nur noch 0,90 Prozent, wobei eine weitere Absenkung auf 0,25 ab 2022 beschlossen ist. Gleichfalls sank der Rohüberschuß der Lebensversicherer. Dieser gibt den Überschuß der Erträge über die Aufwendungen – also den „Gewinn“ – an.

Die der Sicherheit dienenden erheblichen Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen an die Versicherten sind allerdings noch nicht abgezogen, der Betrag wird somit überhöht ausgewiesen. Während dieser Überschuß im Fünfjahreszeitraum 2009 bis 2014 noch durchschnittlich 15,7 Prozent der Prämieneinnahmen ausmachte, sank er von 2015 bis 2019 auf 12,2 Prozent. Da bei grober Schätzung im Mittel etwa 80 Prozent der Lebensversicherungsverträge mit Garantiezinsen von 2,25 Prozent und mehr ausgestattet sind, wurden die Versicherer zum Schutz der Altkunden – und zu Lasten der Neukunden – 2011 zum Aufbau einer jährlich neu zu berechnenden „Zinszusatzreserve“ verpflichtet.

Auf der Grundlage eines Referenzzinses, der sich als Zehn-Jahres-Mittel berechnet, müssen Sicherungsrückstellungen zu Lasten des Gewinns gebildet werden. Ist dieser Referenzzins geringer als der Garantiezins der Verträge, muß diese „Vorsorgekasse“ entsprechend gefüllt werden, damit die Leistungsverpflichtungen gegenüber den Versicherten auch in der Zukunft erfüllt werden können. Aufgrund der sinkenden Marktverzinsung der Anlagen stiegen diese Rückstellungen von 1,5 Milliarden (2011) über 31,6 Milliarden (2015), auf 87 Milliarden Euro (2020) an.

In einer bislang unveröffentlichten Studie hat die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) die Kosten der Niedrigzinspolitik der EZB für die Versicherungswirtschaft im Zeitraum 2015 bis 2019 einmal detailliert berechnet. Angenommen wird von den Finanzmathematikern ein Zinssenkungseffekt durch die EZB-Anleihekaufprogramme von einem Prozentpunkt. Dieser ist realistisch, denn verschiedene Studien weisen eine Bandbreite der Absenkung von 0,4 bis 1,3 Prozentpunkten nach.

Aus den jährlichen Neuanlagen der Versicherer ab 2015 stehen bei einer Laufzeit von zehn Jahren deshalb bereits jetzt konkrete Verluste fest. Je nach Sparte betragen sie für die Lebensversicherer 61,5 Milliarden, für die privaten Krankenversicherungsunternehmen 12,9 Milliarden, und für die Pensionskassen, Pensionsfonds, Versorgungswerke und Zusatzversorgungskassen der betrieblichen Altersversorgung 24 Milliarden Euro. Insgesamt entstanden zwischen 2015 und 2019 Zinsmindereinnahmen in Höhe von knapp 100 Milliarden Euro – und ein Ende ist nicht abzusehen.

Pflegeversicherung müßte etwa 34 Prozent teurer werden

Zugleich hat die EZB-Politik des „kostenlosen Kredits“ Auswirkungen auf die Zinszusatzreserve, denn ein reduzierter Referenzzins macht bei gleichbleibenden vertraglichen Leistungszusagen eine höhere Sicherheitszuführung notwendig. Die DAV ermittelt als Differenz der für 2019 getätigten Zuführung von 75,6 Milliarden Euro und dem ohne den EZB-Zinseffekt sich ergebenden Betrag von lediglich 55,6 Milliarden Euro Zusatzkosten von 20 Milliarden Euro. Diese Niedrigzinskosten zahlen langfristig die Kunden, deren Vorsorge bzw. Versorgung im Alter teils erheblich teurer wird.

Da die kalkulierten Versicherungsprämien konstant bleiben sollen, die Leistungen der Krankenversicherung oder einer Risikolebensversicherung mit dem Alter aber steigen, müssen Altersrückstellungen aus dem Prämienaufkommen gebildet werden, die am Kapitalmarkt angelegt werden. Durch die nur geringe Verzinsung der Anlagen muß die Basis dieser Altersrückstellung entsprechend hoch ausfallen, was ein höheres Prämienniveau zur Folge hat. Laut der DAV-Studie beträgt der Prämienanstieg eines 30jährigen für eine Krankenvollversicherung etwa acht Prozent, für eine Risikolebensversicherung bis Alter 67 Jahre etwa neun Prozent, für eine Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung bis Alter 67 Jahre zirka zwölf und für eine Pflegeversicherung etwa 34 Prozent. Dieser Prämienanstieg ist quasi leistungslos, denn ihm steht kein Zusatznutzen gegenüber.

Außer mit Beitragssteigerungen reagieren die Versicherer auch mit einem Anstieg des risikobehafteten Anlagebestandes an Wertpapieren, um die Renditefähigkeit ihrer Deckungsstöcke aufrechtzuerhalten. Lag zur Jahrtausendwende der risikolose Zins einer zehnjährigen Bundesanleihe noch bei 5,5 Prozent pro Jahr, so liegt er derzeit bei minus 0,4 Prozent. Beitragsgarantien von 100 Prozent sind mit dieser Anlageform nicht mehr möglich.

Entsprechend müssen die Versicherer das Garantieniveau absenken und den Negativzins sicherer Anleihen durch risikoreichere Anlagen wie Immobilien, Infrastruktur und Finanzierungen für private institutionelle Investoren ausgleichen, um eine positive Rendite für den Versicherungsnehmer zu erzielen. So bestanden die Kapitalanlagen der Lebensversicherungen 2019 zu 82,9 Prozent aus Rentenpapieren, zu 11,8 Prozent aus Aktien und Beteiligungen und zu 3,6 Prozent aus Immobilien. Trotzdem sank die Nettoverzinsung von 4,5 (2015) auf 3,9 Prozent (2019). Die Ausstattung der Versicherer mit Eigenmitteln (Solvabilität) sinkt infolgedessen, was die Finanzstabilität negativ beeinflußt.

Sinkende Anlageerträge der Versicherungen, die Notwendigkeit höherer Rückstellungen für Altverträge zu Lasten der Neukunden, riskantere Kapitalanlagen und eine abnehmende Solvabilität der Versicherer einerseits, höhere Prämien bzw. geringere Leistungszusagen an die Versicherten andererseits machen die Eigenvorsorge zunehmend unattraktiv, gefährden die Vorsorge und die Finanzstabilität der Unternehmen. Haben das Bundesverfassungsgericht, die Bundesregierung und der Bundestag bei ihrer Prüfung der Verhältnismäßigkeit des EZB-Anleihekaufprogramms PSPP diese volkswirtschaftlich überaus wichtige Branche übersehen?






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Deutsche Aktuarvereinigung:  aktuar.de

Foto: Absturz der Renditen: Sinkende Anlageerträge und die Notwendigkeit höherer Rückstellungen für Altverträge zu Lasten der Neukunden?