© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Denkblockaden überwinden
Plädoyer für eine neue Debattenkultur: Zu Bernd Stegemanns Abhandlung „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“
Thorsten Hinz

Der Theaterdramaturg und Dozent Bernd Stegemann, ein studierter Philosoph und Germanist, wurde 2018 bundesweit bekannt, als er gemeinsam mit Sahra Wagenknecht die soziale Protest- und Sammlungsbewegung „Aufstehen“ begründete. Die Aktion versandete bald, doch seitdem hat Stegemann sich als kluger Analytiker von Politik und Gesellschaft einen Namen gemacht. Stegemann ist ein unüblicher Linker, dem Fakten und Zusammenhänge wichtiger sind als ideologische Dogmen. Der Titel seines aktuellen Buches „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ spielt auf Karl Poppers Klassiker über die offene Gesellschaft an. 

Die Feinde der Öffentlichkeit bedienen sich der „Cancel Culture“ und „Wokeness“, das heißt, sie üben sich in revolutionärer Wachsamkeit und liegen ständig auf der Lauer, um Sprach- und Gedankenverbrecher zu entlarven. Sie entfachen Empörungsstürme („Shitstorms“) im Netz und sorgen in den Medien für „Framing“, für die politisch korrekte Vorsortierung der Wirklichkeit. Was zu der „dysfunktionalen Öffentlichkeit“ führt, mit der wir es heute zu tun haben. Gut zwei Drittel der Deutschen geben an, daß sie es aus Angst vor Sanktionen vorziehen, bei bestimmten Themen ihre Meinung für sich zu behalten. Weil aber die freie Öffentlichkeit das Herzstück der Demokratie und der offenen Gesellschaft ist, haben wir es logischerweise mit einem dysfunktionalen beziehungsweise undemokratischen politischen System zu tun. Ganz so weit will Stegemann in seiner Bewertung zwar nicht gehen, aber so lautet nun mal die Konsequenz aus seiner Analyse.

Es ist bemerkenswert, daß die Links-Rechts-Unterscheidung im Buch so gut wie keine Rolle spielt. Statt dessen erklärt Stegemann, der mit einer Arbeit zur Systemtheorie promoviert wurde, die Entwicklung in der Begrifflichkeit von Niklas Luhmann. Spätmoderne Gesellschaften besitzen demnach keinen zentralen Punkt, sondern bilden ein Pluriversum ausdifferenzierter Systeme: Politik, Wirtschaft, Soziales, Wissenschaft, Kultur und Kunst usw., die durch Membranen getrennt sind und unabhängig voneinander funktionieren. Doch Membranen sind auch durchlässig, so daß ein Austausch zwischen ihnen stattfindet. Die Öffentlichkeit ist der Ort, wo ihre unterschiedlichen Perspektiven und Interessen aufeinandertreffen, wo sie ab- und ausgeglichen werden.

Dieser Ort ist nun im Zerfall begriffen. Zum einen, weil sich die Kommunikation zunehmend ins Internet verlagert, wo sich Echokammern und Filterblasen bilden. Zum anderen durch den Populismus – den Ruf nach und die Offerierung von unterkomplexen Lösungen – sowie die Identitätspolitik von Interessengruppen, die ihre Interessen absolut setzen. 

Für Stegemann handelt es sich hierbei um eine Entäußerung der Postmoderne, deren Theorien die Ausdifferenzierung ausdrücklich als „Zerfall“ und diesen als positiven Wert begrüßen. Alles ist relativ, und nur die Aussage, daß alles relativ sei, besitzt eine absolute Geltung. Dies sei die philosophische Rechtfertigung des Neoliberalismus, der wiederum seine Herrschaft auf die Atomisierung der Gesellschaft gründet.

Mit dem Begriff „Neoliberalismus“ geht Stegemann reichlich freihändig um. Gemeint ist ein außer Rand und Band geratener, omnipräsenter und -potenter Kapitalismus, eine Aufgipfelung dessen, was als Durchökonomisierung der Gesellschaft bezeichnet wird. Dem Neoliberalismus sei es gelungen, sich als zentralen Wert zu etablieren und die anderen Systeme zu infiltrieren, wobei er mit einem Illusionstrick arbeitet, mit der Behauptung nämlich, selbst keine Ideologie, sondern entgegen allen ideologischen Systemen die reine, gleichsam natürliche Evidenz zu repräsentieren. In der Finanzkrise 2008, als die Großbanken aufgrund krimineller Machenschaften in eine existenzbedrohliche Lage geraten waren, pochten sie auf ihre „Systemrelevanz“ und nötigten Politik und Gesellschaft, für die angerichteten Schäden aufzukommen. Für Stegemann ist dies ein Beispiel dafür, wie der Neoliberalismus die anderen Systeme der Gesellschaft inzwischen dominiert. Auch die Kultur ist von ihm erfaßt. Die Hollywoodfilme machen psychopathische Banker als Schuldige verantwortlich, stellen aber nicht die Frage, wie das System beschaffen ist, das psychopathische Verhaltensweisen favorisiert und belohnt. 

Indem man die Systemfehler subjektiviert und moralisiert, entzieht man sie substantieller Kritik. Die seitenverkehrte Entsprechung zu diesem Verfahren sind die lautstarken Minderheitenbewegungen, die ihre Identität aus ihrer subjektiven Verletztheit und unwiderlegbaren Betroffenheit beziehen und sich zum „absoluten Opfer“ erheben. Sie erklären ihre Befindlichkeiten und Gruppeninteressen zum verbindlichen Maßstab, treiben die Atomisierung der Gesellschaft voran und erweisen sich als eine weitere List des Neoliberalismus. 

Einen kritischen Blick wirft der Autor auf Jürgen Habermas’ Modell der „deliberativen Demokratie“, die vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments und von der Gemeinwohlorientierung der Diskursteilnehmer bestimmt wird. Stegemann hält dagegen, daß es sich um kein Abbild der Wirklichkeit, vielmehr um die normative Wunschvorstellung einer bestimmten Schicht, einer neuen Mittelklasse von  „Marktgewinnern“ und Inhabern einer „bestimmten politischen Haltung“ handelt, die über „elaborierte Sprachcodes“ verfügt. Dieser Einwand ist richtig, bleibt aber oberflächlich.

So hält Stegemann Habermas zugute, 1996 gleichfalls vor einer „ethischen Engführung der politischen Diskurse“ gewarnt zu haben, vergißt jedoch zu erwähnen, daß Habermas diese Praxis unter großem Getöse legitimiert hatte, als er im Historikerstreit den Thesen Ernst Noltes mit der Moralkeule, mit dem unwissenschaftlichen Argument entgegentrat, sie seien geeignet, den Deutschen „die Schamröte“ über die NS-Verbrechen auszutreiben. Wenn Stegemann dann 70 Seiten weiter schreibt, die „Dethematisierung der unliebsamen Widersprüche“ führe geradewegs in die „Nicht-Öffentlichkeit“, versäumt er hinzuzufügen, daß Habermas genau das – die „Dethematisierung“ – hinsichtlich rechter Positionen gefordert hatte. 

Unterbelichtet bleibt der historische Hintergrund. Stegemann meint, die alliierte „Umerziehung“ der Deutschen nach 1945 sei „ein historisch gut begründeter Auftrag“ gewesen, doch wer heute von den gleichen Prämissen ausgehe, gefährde „die Funktion der Öffentlichkeit“. Er realisiert nicht, daß die vormundschaftliche Praxis, die er beklagt, auch eine Folge der Umerziehung ist. In dem von Clemens Albrecht herausgegebenen Sammelband „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ und in Stefan Scheils „Transatlantische Wechselwirkungen“ wird dargestellt, daß das Übergewicht der Frankfurter Schule in Medien und Bildungseinrichtungen keine Frage geistiger Überlegenheit, sondern ein glashartes dezisionistisches Oktroi der Amerikaner war, das im Laufe der Jahre zum Selbstläufer geworden ist. Der umerzogene Herrscher spricht zum stummen Volk, legt die Regeln fest und bestraft ihre Übertretung.

Die Klimaproteste betrachtet Stegemann mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits sieht er die Welt im Zeitalter des Anthropozäns angekommen, in dem der Mensch zum geologischen Faktor und erdgeschichtlichen Risiko geworden ist. Insofern ist er froh, daß „der Erde tatsächlich eine Stimme“ verliehen wird. Andererseits kritisiert er, daß die Bewegung in der Hand einer privilegierten Klasse liegt, die ein kollektives Gefühl nutzt, um ihre Macht zu befestigen, und sich am Ende auch nur „innerhalb der kapitalistischen Logik“ bewegt. Sein Fazit ist für einen Linken verblüffend: „Das Anthropozän ist die Epoche, in der die Transzendenz ohne Gott und ohne Ritual erscheint.“ Die menschliche Hybris müsse der Demut weichen durch einen „Akt göttlicher Gnade, der die Transzendenz ins Jetzt der Menschen holt“. Wer aus dieser Perspektive Kapitalismuskritik übt, hat die alten Links-Rechts-Debatten in der Tat hinter sich gelassen.

Doch macht es sich Stegemann damit auch zu leicht. Es sind schließlich linke Inhalte, Werte, Begriffe, mit denen die Feinde der Öffentlichkeit hausieren und mit dem Neoliberalismus konform gehen. Zudem ist es abwegig, die Identitären Bewegungen auf eine Stufe mit Meetoo-, LGBT-, BLM- und sonstigen Identitätsaktivisten auf eine Stufe zu stellen und zu behaupten, sie würden sich gegenseitig hochschaukeln. Jene sind in der Defensive, sie verteidigen die eigene, unmittelbare Lebenswelt gegen den neoliberalen Globalismus; die anderen sind objektiv seine Agenten. Vor allem erstaunt es, daß ein Linker die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln, sprich: an den Medien, den sozialen Netzwerken, den Vertriebswegen nicht erwähnt. Kein Wort zu Big Tech und Big Data und ihrer Kooperation und Kollaboration mit der Politik und den NGOs.

Außerdem fehlen Hinweise auf jene semistaatlichen Organisationen, die faktische Überwachungs- und Spitzeldienste und die Vorarbeit für die Cancel Culture leisten. Schade ist weiterhin, daß der Autor nicht Michael Esders’ Buch „Sprachregime“ in seine Untersuchung einbezogen hat („Gewalt steckt in weichen Worten“, JF 30-31/2020). Unbeachtet bleibt auch die  Mentalität der Massengesellschaft. Stegemann scheint noch an ein „gutes Volk“ zu glauben, dem der neoliberale Mephisto vergiftetes Öl ins Ohr träufelt. Dafür spricht ein typisches Falschzitat: Angeblich habe Marx die Religion als „Opium fürs Volk“ bezeichnet. In Wahrheit nannte er sie „Opium des Volkes“. Nichts Aufgezwungenes also, sondern ein von ihm Gewolltes. Vielleicht ist den Massenmenschen mehrheitlich das betreute Denken als neues Opium ganz recht? 

Als Plädoyer für eine praktikable neue Debattenkultur führt das Buch nicht sehr weit, aber der Strukturwandel der Öffentlichkeit, der sich aktuell vollzieht, hat einen kompetenten Analytiker gefunden. Chapeau!

Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden  290 Seiten, 22 Euro

Foto: Wüste Diskussion: „Das Haus brennt ab und seine Bewohner verlieren die Nerven, weil sie die Jahre zuvor mit Nachbarschaftskrächen verbracht haben. Statt zu löschen, schreien sie sich weiter an. Ist es einmal so weit, kommt jeder Rat zu spät.“ (Bernd Stegemann in der Einleitung zu seinem Buch)