© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Kommt jetzt die Inflation?
Ein Marsch durch unbekanntes Terrain
Elliot Neaman

Die Gesetze der Wirtschaft und der Natur können nicht außer Kraft gesetzt werden. Der Unterschied zwischen den beiden besteht darin, daß die ökonomische Analyse seit dem Beginn der Corona-Pandemie wahrscheinlich komplexer ist, weil mentale Gewohnheiten, Sozialpsychologie, neue Technologien und viele andere Faktoren nachvollziehbare Muster durcheinandergebracht haben. Irgendwann wird die Normalität zurückkehren, aber es ist sehr schwer, unter den derzeitigen Bedingungen den Zeitrahmen vorherzusagen.

Ein gutes Beispiel für diese Schwierigkeiten ist die Messung der aktuellen Inflationsrate. In den USA lag der Consumer Price Index (CPI) im Juni und Juli laut Arbeitsministerium im Jahresvergleich bei 5,4 Prozent, deutlich über den 1,4 Prozent von Dezember und Januar. Dies war der stärkste Preisanstieg seit Juli 2008, als die US-Inflationsrate kurz vor der Lehman-Pleite kurzzeitig auf 5,6 Prozent geklettert war. Das ist dennoch viel weniger als in der Zeit zwischen 1973 und 1990, als der CPI zwischen zwei und 14 Prozent pendelte. Die aktuellen 5,4 Prozent sind aber spürbar mehr als die offiziell nur 2,2 Prozent in der Eurozone.

Die US-Ökonomen sind sich uneinig darüber, ob die hohe Inflation ein vorübergehendes Phänomen ist, das auf pandemiebedingte Versorgungsengpässe zurückzuführen ist, oder ob sie ein Zeichen für kommende Probleme ist. Die im Mai dieses Jahres um 56,2 Prozent höheren Benzinpreise lassen sich einfach erklären: Im Mai 2020 waren sie angesichts des billiges Erdöls um 33,8 Prozent gefallen. Dieser Trend hielt bis Januar 2021 an. Lebensmittel waren im Juli in den USA „nur“ 3,4 Prozent teurer als im Juli 2020. Prinzipiell steigen die Preise in einer Marktwirtschaft, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Der Nobelpreisträger Milton Friedman und andere haben mit ihren Theorien darauf hingewiesen, daß sowohl die Geldmenge als auch die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes für die Inflation ausschlaggebend sind. Friedman kam bekanntlich zu dem Schluß, daß die entscheidende Ursache der Großen Depression in den USA der dreißiger Jahre monetärer Natur war, das heißt, die Zentralbanken haben falsch gehandelt, indem sie die Geldmenge verknappten, anstatt sie zu lockern. Zwischen 1929 und 1935 gab es Deflation, also negative US-Inflationsraten von zeitweise über elf Prozent.

Ökonomen, die sich nicht um die Inflation sorgen, argumentieren mit der atypischen Corona-Situation: Angebotsverknappung wegen Covid-19. Ein gutes Beispiel sind die Fluggesellschaften. Während der Pandemiebeschränkungen haben sie Mitarbeiter entlassen und Flüge gestrichen. Als sich die Situation entspannte, wollten die Amerikaner wieder mehr reisen, und die Flugpreise stiegen wieder an. Mit der Zeit sollten sich Angebot und Nachfrage wieder ausgleichen, und die Preise werden wieder zur Norm zurückkehren. Das gleiche geschah bei den Holzpreisen. Die Bürger saßen in ihren Häusern fest und widmeten sich Heimwerkerprojekten, was unter anderem den Holzpreis in die Höhe trieb. Doch der ist seit seinem Höchststand inzwischen wieder um fast die Hälfte gesunken.

Dies bestärkt die Nicht-Alarmisten in ihrer Ansicht, daß der derzeitige Inflationsschub nur vorübergehend ist. Ein ähnliches Problem kann man auch bei den Halbleiterchips feststellen. Fast alle Bürotätigkeiten wurden ins Homeoffice verlegt. Damit stieg der Druck auf die IT-Branche, die nicht genügend Computerbauteile liefern konnte. Dieser Versorgungsengpaß wirkte sich auf die gesamte Wirtschaft aus, auch auf die Autoproduktion. Neuwagen sind heute nicht nur hochkomplizierte Mechanik, sondern gleichzeitig Computer auf Rädern, was bedeutet, daß GM, Ford oder Toyota eng mit den Herstellern von Halbleitern vernetzt sind – ohne die fährt nichts mehr.

Und ein weiterer Faktor befeuerte die US-Inflation: die ungewohnt massive staatliche Unterstützung während der Pandemie für Firmen und Arbeitnehmer durch Direktzahlungen. Nicht nur Arbeitslose, auch Rentner und Kinder erhielten sowohl unter Doland Trump als auch unter Joe Biden pauschale Schecks, die sie meist nicht voll verausgabten, sondern sparten: Die Amerikaner haben derzeit etwa 2,5 Billionen Dollar „auf der hohen Kante“. Wenn dieses Geld nun zu zirkulieren beginnt, wird die Nachfrage nach Konsumgütern steigen, deren Preise in die Höhe treiben und damit die Inflation beschleunigen. Wenn die Pandemie jedoch vorbei ist, gibt es kein „kostenloses“ Geld mehr von der Regierung – was die Inflation auf die gewohnte Größe von zwei bis drei Prozent zurückführen könnte.

Ein weiterer Inflationsfaktor ist die Politik der US-Notenbank Fed. Diese hat nicht nur die Dollarmenge erhöht, indem sie Monat für Monat für mindestens 80 Milliarden Dollar amerikanische Staatsanleihen (Treasury Bonds) aufkaufte. Auch Hypothekenpapiere für 40 Milliarden Dollar landeten so im Fed-Bestand. Jerome Powell, der unter Barack Obama in den Notenbank-Vorstand einzog und unter Trump sogar zum Fed-Chef aufstieg, will daran vorerst prinzipiell festhalten – auch wegen der US-Arbeitslosenquote von 5,9 Prozent, die spürbar steigen könnte, wenn die Corona-Unterstützungsleistungen im September auslaufen. Mit dem Ende der Pandemie könnte das „Tapering“ beginnen, was bedeutet, daß die Fed ihre Anleihekäufe reduziert. Das dürfte die Inflation dämpfen.

Ob dies tatsächlich passiert, ist eine offene Frage, da die Fed seit Jahren ein „Tapering“ versprochen, aber immer wieder den entgegengesetzten Kurs einschlagen hat. Und auf Covid-19 hat die US-Notenbank besonders aggressiv reagiert. Auch der private Anleihemarkt beeinflußt die Inflation. Historiker wissen, daß die dortigen Kurse wichtige Signale für die Bestimmung des künftigen Verlaufs der nationalen Wirtschaftszyklen liefern. Wie die Arbeiten von Niall Ferguson und anderen gezeigt haben, können Forscher bis zu einem gewissen Grad sogar soziale und politische Entwicklungen vorhersagen, indem sie das Auf und Ab der Anleihekurse und ihre Relation zu Staatsanleihen beobachten. Inflation ist nicht nur ein monetäres, sondern auch ein psychologisches Ereignis. Wenn die Verbraucher glauben, daß der Preis für eine größere Anschaffung (Haus, Auto oder teures Gerät) steigen wird, ist es sinnvoll, jetzt zu kaufen und nicht später. Auf makroökonomischer Ebene kann diese mikroökonomische Psychologie Teufelskreise schaffen, die zu einer Inflation führen, die nichts mit den tatsächlichen Produktionskosten zu tun hat.

Die „Inflations-Alarmisten“ warnen daher vor Selbstgefälligkeit. Zwar sind seit 2008 alle Expertenvorhersagen bezüglich einer steigenden Inflation nicht eingetreten und zwischen April 2020 und Januar 2021 hat mit Raten zwischen 0,1 und 1,4 Prozent fast Preisstabilität geherrscht – aber wenn die Inflation erst einmal Fahrt aufnimmt, ist sie nur sehr schwer unter Kontrolle zu bringen. Die Menge an überschüssigem Kapital, das auf der Suche nach höheren Renditen durch die Weltwirtschaft schwappt, ist für die „Inflations-Falken“ unter den Ökonomen äußerst besorgniserregend. Die US-Staatsverschuldung lag im Juli bei 28,4 Billionen Dollar – im Januar 2020 waren es „nur“ 23,2 Billionen Dollar gewesen. Die Verschuldungsquote könnte im laufenden Jahr auf 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts klettern – in Deutschland wird lediglich mit 73 Prozent gerechnet.

Hinzu kommt Bidens Versprechen, Billionen von Dollar für die marode US-Infrastruktur auszugeben, was die „Inflations-Falken“ ebenfalls erzürnt. Auch die Abwertung des Dollars seit März 2020 (etwa zehn Prozent im Vergleich zum Euro) erhöht die Inflation – vor allem wenn mehr importiert als exportiert wird. Das Handelsbilanzdefizit stieg im Coronajahr von 924 auf 976 Milliarden Dollar. Rohstoffe waren daher im Juli um 8,5 Prozent teurer als im Vorjahresmonat. Ein weiter fallender Dollar-Kurs würde also die Inflation befeuern. Einige Pessimisten warnen sogar vor einem Dollar-Crash – doch der wird schon seit Jahrzehnten prognostiziert. Die schleichende Inflation ist aber offensichtlich: 1970 kostete ein Hamburger 20 Cent, heute sind es 1,40 Dollar.

Seit dem Inflationszyklus in den späten siebziger/achtziger Jahren ist das Mittel der Wahl darin, die Zinssätze zu erhöhen. Die Fed verfolgt derzeit ein Inflationsziel von „durchschnittlich zwei Prozent“. Und da die USA-Inflation nicht nur 2020, sondern auch 2019 im Schnitt unter zwei Prozent lag, sind die aktuell 5,4 Prozent für die Fed wohl tolerabel. Wenn die Inflation in die Höhe schießt, kann die Fed die Zinssätze anheben, was zwar die Inflation dämpfen könnte, aber wahrscheinlich auch zu einem viel langsameren Wirtschaftswachstum und einer Abwertung der Vermögenswerte führen würde. Dies sind sehr schwierige Abwägungen.

In der Vergangenheit war es die Regel, daß große Haushaltsdefizite und hohe Schuldenstände zu Inflation führen. Doch seit über einem Jahrzehnt hat dies nicht zu dem erwarteten Anstieg der Verbraucherpreise geführt. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman propagiert daher wie linke US-Demokraten einen „Green New Deal“. Da die jetzige Inflation nur tempoprär sei, könne man die Staatsverschuldung und die jährlichen Defizite ignorieren und in die Infrastruktur, Sozialprogramme und die Bekämpfung des Klima­wandels investieren. Bidens Infrastrukturgesetz führt sicher zu einer höheren Beschäftigungsrate, es enthält aber auch eine Reihe neuer Vorschriften, wie etwa strengere Emissionsstandards für Autos. Die könnten zusammen mit den höheren Arbeitskosten ebenfalls die Inflation anheizen, warnen nicht nur republikanische Kritiker von Biden und Krugman.

Eine weitere Möglichkeit, die Inflation zu messen, besteht darin, die Reaktion privater Unternehmen auf mögliche künftige Preiserhöhungen zu beobachten. Etwa zwei Drittel der amerikanischen Firmen beginnen vorausschauend, die Preise für ihre Waren und Dienstleistungen zu erhöhen. Dies deutet darauf hin, daß die Führungskräfte dieser Unternehmen im Gegensatz zu den Anlegern sehr besorgt über künftige Preisprobleme sind. Auch im Häusermarkt und bei den Wohnungsmieten ist die Inflation spürbar. 2020 sind die Immobilienpreise in den USA erheblich gestiegen, ganz zu schweigen von den Mieten in den städtischen Ballungsgebieten. Auch das ist ein Warnsignal, es sei denn, das Immobilienpreisniveau bricht wie in der Finanzkrise 2008/09 massiv ein.

Da Inflationsvorhersagen in der jüngeren Vergangenheit so ungenau waren, läßt sich die Inflationsrate seriös allenfalls für die kommenden sechs bis acht Monate prognostizieren. Wenn die Inflation in den USA bald wieder auf zwei bis drei Prozent zurückgeht, haben sich die Panikmacher wahrscheinlich wieder geirrt – auch wenn sie auf lange Sicht vielleicht doch recht haben. Wenn die Inflation jedoch weiter anhält, wird sich wohl die lang erwartete Preisspirale heftig drehen. Die Fed wird große Probleme haben, dagegen anzukämpfen, und deshalb setzt sie auf eine sanfte Landung. Denn anders als bei der Deutschen Bundesbank zu D-Mark-Zeiten ist eine hohe US-Beschäftigungsrate neben der Dollar-Preisstabilität ein geldpolitisches Hauptziel der Fed. Und die Geschichte lehrt, daß harte geldpolitische Landungen politisch gefährlich und unvorhersehbar sind.

Hinzu kommt: Sars-CoV-2 mutiert weiter. Die Pandemie und die Wirtschaft beeinflussen einander weiter. Trotz der millardenschweren Impfkampagne hat die Pandemie in den USA bislang 633.000 Opfer gefordert. Covid-19 hat alle üblichen Muster durcheinander gewirbelt, auf die die Ökonomen ihre Prognosen und politischen Empfehlungen stützen. Wenn Delta und künftige Virusvarianten die Wirtschaft weiterhin behindern, werden die USA auch künftig in einem notstandsähnlichen Umfeld leben. Wirtschaftswissenschaftler mögen harte Zahlen und zuverlässige Daten. Die Pandemie macht diese Daten unzuverlässig und die Zukunft unvorhersehbar. Wir marschieren immer noch durch unbekanntes Terrain, ohne verläßliche Führer oder gute Kompasse.






Prof. Dr. Elliot Neaman, Jahrgang 1957, lehrt Europäische Geschichte an der University of San Francisco und war von 2005 bis 2018 Präsident des dortigen Fakultätsverbands. Er studierte an der University of British Columbia, der FU Berlin und der University of California.

Foto: Euro-Messingring: Die US-Verschuldungsquote könnte im laufenden Jahr auf 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts klettern – in Deutschland wird lediglich mit 73 Prozent gerechnet