© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Revisionismus von links
In der „Zeitschrift für Geschichtswissen-schaft“ unternimmt Dieter Gessner den Versuch, den Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 Jens Jessen mit dem Ruch des Faschismus zu behaften
Oliver Busch

Im aktuellen Jahrgang  der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (Heft 3/2021) findet sich unter dem Titel „‘Völkische’ Kapitalismuskritik – der Volkswirt Jens Jessen (1895–1944)“ ein kurzer Aufsatz, dessen Botschaft nicht so leicht als das zu entschlüsseln ist, was er ist: schlechter Geschichtsrevisionismus von links. Sonderbar mutet schon an, daß der Verfasser, Dieter Gessner,  Jahrgang 1940, promovierter Historiker, ehemals „Dokumentationsjournalist“ beim Spiegel, sie als „Auseinandersetzung“ mit einer Biographie Jessens offeriert, die vor sage und schreibe zwanzig Jahren veröffentlicht wurde.   

2001 erschien in der Reihe „Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie“ die Hamburger Doktorarbeit von Regina Schlüter-Ahrens, die sich dem Leben und Werk des Kieler und Berliner Wirtschaftswissenschaftlers Jens Jessen widmet. In seinem dazu verfaßten Geleitwort bekundet Heinz Rieter, Mitherausgeber der „Beiträge“ und Doktorvater der Autorin, daß ihm das Thema nicht ganz geheuer gewesen sei. Jessen sei ein „heikler Fall“, eine der „irritierendsten Persönlichkeiten unseres Faches im 20. Jahrhundert“. Rieter hat also sichtlich Probleme, den Gelehrten, der wegen seiner Beteiligung an dem am 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler verübten Attentat zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, in das moralisierende Gut-Böse-Raster bundesrepublikanischer Erinnerungspolitik zu pressen. Ein „nationalsozialistischer Hochschullehrer der ersten Stunde und Verfechter einer neuen, ‘völkischen’ Wirtschaftslehre, der zunehmend in Opposition zum NS-Regime gerät“ und seinen aktiven Widerstand mit dem Tod durch den Strang bezahlt – wie passe das zusammen? 

Schlüter-Ahrens’ Untersuchung gibt darauf keine einfachen Antworten. Wie so viele Beteiligte an dem Versuch, Hitler zu töten, hatte Jessen, NSDAP-Mitglied seit 1930, in den „Führer“ und dessen „Bewegung“ politische Hoffnungen investiert, die auf das von dem jungkonservativen Publizisten Ferdinand Fried 1931 ausgerufene „Ende des Kapitalismus“ hinausliefen. Daß Hitler und der wirtschaftspolitische Apparat der Partei darunter etwa anderes verstanden als er, erfuhr Jessen 1935 aus dem Völkischen Beobachter. Die dort prominent platzierte, vernichtende Rezension seiner programmtisch gedachten „Einführung in das deutsche Wirtschaftsleben“ („Volk und Wirtschaft“, Hamburg 1935) wirft dem Verfasser vor,  im verhaßten Geist des „Liberalismus“ gefangen zu sein und einem falschen „Objektivismus“ zu huldigen, der die NS-Weltanschauung aus der Wirtschaftswissenschaft verbanne. 

Die Überzeugung, daß Ideologie keine Zugänge zur Erkenntnis der Wirklichkeit eröffne, an der Jessen unbekümmert um solche Attacken festhielt, habe ihn, wie Schlüter-Ahrens akribisch rekonstruiert, spätestens 1937 zu Positionen getrieben, die ihn als „öffentlichen Kritiker des Regimes“ und „Anwalt der ökonomischen Vernunft“ auswiesen. Alle publizistischen Interventionen Jessens mündeten in den zentralen Vorwurf an die Adresse der Reichsregierung, ihre seit 1936 forcierte planwirtschaftlich organisierte Aufrüstung gehe zu Lasten der wirtschaftlichen Stabilität und zersetze damit auch die sittlichen Grundlagen eines geordneten Gemeinwesens, das Jessen zwar keineswegs mit dem gescheiterten Parteienstaat der Weimarer Republik gleichsetzte, aber eben auch nicht mit der NS-Diktatur. 

Diametral dem geopolitischen NS-Machtstreben entgegengesetzt

Dafür ähnelte dieses „Regime der Machenschaften“ (Martin Heidegger) ihm, dem auf das humanistische Bildungsideal der sozial verantwortlichen Persönlichkeit fixierten Wirtschaftsliberalen, zu sehr dem kapitalistischen und bolschewistischen Kollektivismus. Männer wie Jessen und sein Mitverschwörer, der preußische Finanzminister und Antike-Verehrer Johannes Popitz, seien halt „die letzten Ausläufer, die der deutsche Idealismus“ in der Wüste des Massenzeitalters hinterlassen habe, notiert Ernst Jünger in seinem Pariser Tagebuch am 3. Februar 1942, nachdem ihn beide Herren zwecks Einladung zur Teilhabe am Tyrannenmord aufgesucht hatten.    

Ebenso provozierte die NS-Außenwirtschaftspolitik, deren ursprüngliches Ziel, mehr Autarkie vom Weltmarkt zu wagen, in Jessen einen leidenschaftlichen Befürworter gefunden hatte, seinen lauten Widerspruch, als 1938/39 der Anschluß Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei erfolgten. Wirtschaft als Waffe, um die „Ketten von Versailles“ zu sprengen und das Reich in die Reihe der Großmächte zurückzuführen, sei für den gescheiterten „NS-Vordenker“ zwar ein legitimes Mittel der Politik gewesen, nicht aber deren Radikalisierung als Werkzeug kriegerischer Eroberung von „Lebensraum“. Schlüter-Ahrens arbeitet sehr klar heraus, daß im kompromißlosen Gegensatz dazu Jessens Credo stets „Keine Gewalt“ lautete. Der „Großwirtschaftsraum“, der sich für ihn aus der friedlichen ökonomischen Vernetzung europäischer Nationalstaaten fast automatisch bilden würde, käme ohne „kommandierende“ deutsche Hegemonie aus, gedeihe vielmehr nur als Wirtschaftsgemeinschaft gleichberechtigter Staaten. Damit formulierte Jessen ein Konzept, das „diametral dem geopolitischen Machtstreben des Nationalsozialismus entgegengesetzt“ gewesen sei, und das ihren Urheber früh zu praktischen Schritten in den Widerstand nötigte. Der „gute Hasser“ (Paul Fechter) Jessen schloß sich darum der Anti-Hitler-Fronde um Generaloberst Ludwig Beck an, die im Vorfeld des Münchner Abkommens den Staatsstreich plante. Für Schlüter-Ahrens habe Jessen in diesem Kreis am entschiedensten darauf gedrängt, „Hitler aus dem Weg zu räumen“.

Gessners reichlich verspätete Polemik will entgegen Schlüter-Ahrens’ knochenhartem Befund, Jessens völkischer Antikapitalismus unterscheide sich wesentlich von der NS-Theorie und -Praxis des Wirtschaftens und sei sogar kompatibel mit dem Ordoliberalismus der Adenauer-Ära, Komplexität reduzieren und wieder „Eindeutigkeit“ im Urteil über den Widerstand gegen Hitler herstellen: „Alles Nazis.“ Darum rückt er den Konservativen Jessen eng an „den Faschismus“ heran, nicht zuletzt durch das bewährte Mittel „Kontaktschuld“. Dafür genügt ihm der Hinweis auf Jessens einstigen Kieler Assistenten, den Ökonomen Otto Ohlendorf, der ab 1941 als Kommandeur der Einsatzgruppe D maßgeblich am Völkermord an den Juden Osteuropas beteiligt war. Darüber hinaus entdeckt Gessner als gemeinsames Drittes zwischen Jessen und Ohlendorf „die Macht“. Deren politische Ökonomie sei deshalb „faschistisch“, weil sie „Macht“ als „Grundlage der Nationalökonomie“ begreife. Nicht nur die „Faschisten“ Marx, Lenin und Stalin hätten sich über diese Definition weidlich amüsiert.

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Foto: Der Ökonom Jens Jessen um 1930: Er habe bereits 1938 am entschiedensten darauf gedrängt, „Hitler aus dem Weg zu räumen“