© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Konserviertes Leben vor der Johannesoffenbarung
Massimo Osanna, ehemaliger archäologischer Leiter in Pompeji, stellt in neuen Bildern die in Asche versunkene Stadt am Vesuv vor
Marcel Waschek

Im Jahr 79 regneten Bimssteine auf die Stadt am Golf von Neapel. Die Erde bebte. Eine gigantische Rauchwolke stieg vom Vesuv auf. Vom Hausberg von Pompeji war immer wieder ein bedrohlich dumpfes und lautes Knallen zu vernehmen. Wellen von giftigen heißen Gasen ergossen sich todbringend in die Gassen der dem Untergang geweihten Stadt. Es scheint wie eine Szene aus der annähernd zur selben Zeit entstandenen Johannesoffenbarung. Ein bekannter Zeuge des Vulkanausbruchs ist Plinius der Jüngere, der ausführlich darüber berichtet. Weitere Zeugen sind eine vierköpfige Familie, die vermutlich versuchte, zwischen den Gaswellen vor der Katastrophe zu flüchten, aber von einer pyroklastischen Welle umgerissen, durch die Hitze getötet und von der herabregnenden Asche eingeschlossen wurde, so daß der Moment ihres Todes dank Alabasterabgüssen ganz und gar lebendig erscheint.

Was für die Bewohner Pompejis und des Römischen Reiches ein furchtbares Unglück war, ist für die Nachwelt ein unglaubliches Glück. Eine ganze Stadt aus dem ersten Jahrhundert mit vielen ihrer Bewohner liegt recht gut in Asche und Bimsstein konserviert vor den Gelehrten. Massimo Osanna, ein klassischer Archäologe und ehemaliger Leiter des Archäologischen Parks von Pompeji, schreibt über die Stadt in seinem aktuellen Buch. Die in den vergangenen Jahrzehnten langsam verfallende Anlage wurde unter seiner Leitung an vielen Stellen saniert und restauriert. Darüber hinaus initiierte er nach längerer Zeit wieder Ausgrabungen in noch nicht erschlossenen Bereichen. In seinem „neuen Bild der untergegangenen Stadt“ führt er durch gut erhaltene Straßen und Plätze hinein in einzelne Häuser, die Spuren der grauen Vorzeit der Stadt enthalten, darunter eine Kultstätte, in der ein elitärer Ritus den gesellschaftlichen Status seiner Mitglieder anzeigte. 

Osanna präsentiert ein fast lebendiges Bild der toten Stadt

Besonders die Casa di Orione wird genauestens behandelt. Anhand der Raumaufteilung, der Bodenmosaike und der gefundenen Gegenstände gelingt es Osanna, ein sehr genaues Bild der Lebensweise und der Vorstellungen sowie der Selbstdarstellung der Bewohner zu zeichnen. Beschriftungen der Wände, von offiziellen Bekanntmachungen, etwa dem Verbot, auf der Straße sein Geschäft zu verrichten, über Wahlwerbung und Karikaturen bis hin zu Notizen und obszönen Schmierereien, vermögen ein genaues Bild des alltäglichen Lebens in der Stadt zu vermitteln und Kontinuitäten aufzuzeigen. Mit Hilfe von Überresten aus Müllablagen, Vorratsräumen und Gefäßen sowie von Preislisten einer Taberna läßt Osanna ein lebendiges Bild der Stadt vor dem inneren Auge entstehen.

Die Bedeutung, die die Gladiatorenspiele für Pompeji hatten, wird anschaulich hervorgehoben. Ein ganzes Kapitel widmet sich Gnaeus Alleius Nigidius und seinem Grabstein, den Osanna selbst ausführlich untersucht hat. Nach seiner Einschätzung war Nigidius der Liebling der Massen. Er war wohl ein sehr spendabler Mensch, der anläßlich wichtiger Daten seines Lebens Gladiatorenspiele ausrichten und in wirtschaftlichen Krisen Brot und Korngaben ausgeben ließ. Zudem bekleidete er mehrere hochrangige Ämter, so etwa das eines Aedilen, eines hohen gewählten Verwaltungsbeamten. Finanziell war er mit dem Gladiatorengeschäft und dem Vermieten von Wohn- und Ladenflächen überaus erfolgreich. Seine Priesterschaft im Kaiserkult war die Krönung seiner Kariere. Ob der mächtige Wohltäter vor oder erst während des Vulkanausbruchs starb, ist ungewiß, denn wer es sich leisten konnte, ließ häufig bereits vor seinem Tod einen Gedenk- oder Grabstein anfertigen. Schließlich kommt Osanna zu dem tragischen Ende der Stadt, das er in apokalyptischen Farben zu malen weiß. Ein etwas aufgeblähter Teil über die Geschichte der Archäologie Pompejis schließt das ansonsten gelungene Werk leider etwas holprig ab.

Das sehr gut belegte wissenschaftliche Buch vermag es, Pompeji ein zweites Leben im Geiste des Leser zu schenken. Nichtarchäologen finden den Einstieg vielleicht etwas sperrig, doch wenn man sich auf den Text einläßt, wird man es nicht bedauern. Das Werk zeigt, daß Archäologie nicht nur aus toten Ruinen, sondern vor allem aus den Menschen, die diese mit Leben und Geschichten füllten, besteht. Wer sich für die Geschichte Süditaliens von den Oskern, Etruskern und Samniten bis über die Julische Dynastie hinaus interessiert, sollte diesem Buch deshalb einen Platz im Regal einräumen.

Massimo Osanna: Pompeji. Das neue Bild der untergegangenen Stadt. Verlag Philipp von Zabern in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG), Darmstadt 2021, gebunden, 512 Seiten, Abbildungen, 50 Euro

Foto: Opfer des Vulkanausbruchs von 79 n. Chr. in Pompeji: Glücksfall für die Archäologie