© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Ein Politguru entzaubert sich
Colin Crouchs erneuerte Analyse der Postdemokratie verharrt in der gedanklichen Enge linker Allgemeinplätze
Günther Scholdt

Zuweilen gewinnt ein Buch allein durch die Skizzierung eines wichtigen Phänomens oder einen markanten Titel schlagwortartige Bedeutung. Wir ignorieren dann um des großen Ganzen willen manche gedankliche Enge oder Begründungsschwäche im Detail. Das galt stets für den britischen Politologen Colin Crouch, dessen 2003 erschienenes Buch „Postdemokratie“ ungewöhnliche Aufmerksamkeit erregte. Dieser Verdacht bestätigte sich nun, da er 18 Jahre später mit „Postdemokratie revisited“ eine Neubetrachtung des Themas vorgelegt hat, die überdeutlich demonstriert, daß er sein beengendes linkes Theoriekorsett nie wirklich aufgeschnürt hat.

Immerhin besaß sein Postdemokratie-Bändchen einst einen reizvoll rebellischen Touch: die formulierte realistische Befürchtung, daß sich die westliche Form der Volksherrschaft in einer Dekandenzphase befindet und wir uns zunehmend der Postdemokratie nähern, definiert als Gemeinwesen, das zwar nach wie vor Wahlen und Regierungswechsel gestattet, die jedoch immer inhaltsleerer werden. Denn „konkurrierende Teams professioneller PR-Experten“ kontrollieren „die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe“ so stark, „daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben“. „Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ 

Der Ansatz war fruchtbar, auch jenseits einer gewissen ideologischen Einseitigkeit. Allerdings relativierte Crouch selbst – was man häufig übersah – seine bedrohliche Diagnose, indem er sie als „Übertreibung“ einstufte und am Ende in Sachen Parteien und Bürgerbewegungen wieder Ermutigendes registrierte. Mit weiteren „Klarstellungen“ und Eingeständnissen von „Irrtümern“ demoliert sein neues Buch die frühere Gedankenkonstruktion fast gänzlich und begibt sich wieder endgültig unter die Fittiche des Mainstreams. 

Crouchs Weltsicht erschöpft sich im Trump- und Orbán-Bashing 

Crouch bekennt nun, die großen „Augenblicke der Demokratie“ zu Lasten der langlebigen (Demokratie bewahrenden) Institutionen überbewertet zu haben, hätten sich letztere in den jüngsten Krisen doch bewährt, weil die Linke die Verfassung schütze. Von der Erosion des Rechtsstaats durch linksdoktrinäre Erziehungsdiktatoren ahnt der Autor schlechterdings gar nichts. Gefahr gehe ausschließlich von „neurechten Bewegungen“ aus, die „unabhängige Richter als Feinde des Willens der Bevölkerung beschimpfen“. Daß diese Unabhängigkeit durch massive Politisierung der Justiz, und zwar mit umgekehrten Vorzeichen, längst nachhaltig bedroht ist, ignoriert Crouch. Dabei berührt dies in Deutschland, wo man einen über Maskenpflicht angeblich „falsch“ urteilenden Familienrichter per Hausdurchsuchung abstrafte, inzwischen sogar die Gewaltenteilung.

Weiter in Crouchs Musterung: Er habe die feministische Agenda nicht angemessen gewürdigt und den von ihm natürlich auf „Xenophobie“ reduzierten Populismus unterschätzt, der angeblich die Postdemokratie fördere – eine Weltsicht, deren Blindheit mit den Interessen des globalen Establishments bestens harmoniert, stellt doch Populismus in Wirklichkeit eine verzweifelte Reaktion abgehängter Schichten dar auf die fast gänzliche Entmündigung im „großen sozialen Experiment“. Sein Orbán- und Trump-Bashing versteht sich als gängiges Ritual etablierter Politikwissenschaft von selbst. Nur erwähnt sei, ohne Erörterung der Konsequenzen, daß seine richtige Analyse des Verlusts religiöser Bindung im Westen nicht für die Masse der islamischen Eingewanderten gilt. Ohnehin fehlt Raum zur Widerlegung sämtlicher Wahrnehmungsschwächen. Nur wenige Blüten seien aufgespießt. 

Danach sieht er die von globalen Einflußgiganten per Panik gesteuerten migrantischen, klimatologischen, genderphraseologischen oder medizinischen Kampagnen nicht als technokratische Umtriebe, sondern als authentische Interessenvertretung des Volkes. Und ausgerechnet das Corona-Management, bei dem gesellschaftliche Mitsprache am sinnfälligsten behindert wurde, gilt ihm als Hoffnungssignal. Denn das Regierungshandeln bestätige nur scheinbar das Voranschreiten der Postdemokratie. In Wirklichkeit „wurde am Umgang mit der Pandemie in vielen Ländern zugleich eine eindrucksvolle Stärke der Zivilgesellschaft deutlich“, womit Crouch nicht etwa Einsprüche von Querdenkern würdigt, sondern eher Pauschalermächtigungen meint. 

Im Sinne einer politologischen Märchenstunde behauptet er: „Regierungen, die aufrichtig und umfänglich kommunizierten, hatten bessere Erfolgsaussichten bei der Bekämpfung des Virus“ und wurden wohl deshalb vom Bürger bei Wahlen „belohnt“. Darauf muß man erst kommen angesichts der systematischen amtlichen Kommunikationsblockade gegenüber alternativen Fachleuten. Angesichts der fast gänzlichen medialen Ausblendung selbst mortaler Gegenrechnungen gegenüber der Nation als einzig orthodoxen Schutznarrativ und der bestürzenden Apperzeptionsverweigerung hinsichtlich der verheerenden ökonomischen, sozialen, bildungsmäßigen, kollektivpsychischen oder verfassungsmäßigen Folgen. Ganz zu schweigen von der schamlosen finanziellen Umverteilung zugunsten einiger ganz großer globaler Gewinner. 

Dies alles habe die „Abwehrkräfte gegen die Postdemokratie gestärkt“, und solche Erfahrungen deuteten möglicherweise auf ein „Wiedererstarken der Zivilgesellschaft“ hin. Für Crouch liegt hierin Vorbildliches, das vielleicht schon bald auch Erfolg im Kampf gegen „Klimawandelleugner“ verspricht und einen „neuen Augenblick der Demokratie hervorbringen“ könnte. 

Sein Vorschlag, Demokratiefreunde möchten „liberale Superreiche auffordern“, antipopulistische Gegenkampagnen zu finanzieren, kommt allerdings Jahrzehnte zu spät, und die Demokratie wird dadurch gewiß nicht gestärkt. Denn Crouch verkennt immer noch, daß beträchtliche Teile der von ihm gefürchteten internationalen Großkonzerne überhaupt nicht mehr unserem scheinoppositionellen Zeitgeist feind sind, sondern ihn vielmehr gefördert bzw. inspiriert haben. Er hat schlicht verpaßt, daß Big Money, Big Tech, Big Pharma längst Allianzen mit einer desorientierten Linken geschlossen haben mit dem Ziel eines ungehemmten weltweiten Waren- und Menschentransfers. 

Nehmen wir also Abschied von einem von Anfang an überschätzten, zunehmend verharschten Denker und etlichen seiner peinlichen Diagnosen! Bewahren wir lediglich sein fast zwanzig Jahre altes politologisches Schlagwort, das man mit eigenem Sinn füllen muß, um es nicht substanzlos werden zu lassen!

Colin Crouch: Postdemokratie revisited. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, broschiert, 278 Seiten, 18 Euro

Foto: Demonstration von Gegnern der Pandemie-Einschränkungen, Stuttgart, am 3. April 2021:  Man soll Superreiche auffordern, antipopulistische Gegenkampagnen zu finanzieren