© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Der Flaneur
Gleich reicht es
Holger Ziehm

Eine bis vor kurzem sehr tolerante und weltoffene Bekannte erzählt uns, daß man in ihrer nahe gelegenen Kleinstadt ab 18 Uhr als Einheimischer inzwischen deutlich in der Minderheit sei. Übertreibt sie? Ich möchte es gar nicht genau wissen oder ausprobieren, aber wir müssen abends noch mal kurz in die Stadt fahren.

Als wir den Wagen geparkt haben, läuft gegenüber von uns ein Neubürger auf und ab. Dunkle Haare, Bart, schmales Gesicht. Ein Kabel führt aus seiner Hosentasche zu seinem Kopf. Er telefoniert und redet ununterbrochen in einer kehlig klingenden Sprache. Wenn man sie verstünde, könnte man aus dreißig Metern Entfernung jedes Wort hören. Den Mann interessiert sein Umfeld nicht, er ist ganz auf seinen Gesprächspartner konzentriert.

Mein Grinsen scheint ihm Bestätigung genug zu sein, einen gleichgesinnten gefunden zu haben.

Ich bin ein paar Meter vorgegangen und warte noch auf meine Frau. Da kommt von hinten ein Mann. Er passiert den Sprecher und kommt auf meine Höhe. Er bewegt sich ganz anders als die Deutschen. Die huschen oft, vor allem die etwas Älteren. Sie wirken ängstlich, vermeiden es, andere anzuschauen, und machen bereitwillig sofort jedem Fremden Platz.

Der Mann hier geht leicht breitbeinig, er hat Zeit, beobachtet sein Umfeld. Er trägt ein verwaschenes lila T-Shirt, hat kurze Haare, braune Haut, keinen Bart. Er ist groß und selbstbewußt. Ich erkenne muskulöse Oberarme, keinen aufgepumpten Bizeps. Seine Gestik und Mimik lassen Unwillen erkennen, er schaut sich noch mal um, zu dem Dauersprecher, den er gerade passiert hat. Nun fixiert er mich kurz. Offenbar wittert er einen irgendwie gearteten Gleichgesinnten. Womöglich stimmt das sogar. 

Er schüttelt den Kopf, meint den Mann hinter uns. Als er vorbei ist, geht sein Unterarm ruckartig hoch, mit offener Hand knapp am Kopf des Mannes vorbei. Etwa so, als ob es gleich eine Backpfeife geben könnte. Eine Geste, wie ich sie schon mal gesehen habe – vielleicht im arabischen Raum. Es heißt wohl: „Gleich reicht es.“ 

Dann sagt er laut zu sich selbst, aber eigentlich an mich adressiert: „Mein Gott, was für eine Sprache!“ An seinem Akzent erkenne ich, daß er noch nicht lange deutsch spricht. Aber er kann sich ausdrücken. Er schaut sich mehrmals zu mir um, hofft auf Bestätigung. Mein Grinsen scheint ihm auszureichen. Breitbeinig geht er seines Weges.