© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Alles oder nichts
Linke: Fliegt sie aus dem Bundestag – oder in die Regierung?
Paul Leonhard / Christian vollradt

Zwei Worte reichen nach Ansicht der linken Wahlkampfstrategen aus, um die Sympathisanten ihrer mehrfach gehäuteten Partei in die Innenstädte zu locken: „Gysi kommt.“ Und tatsächlich zieht der schnoddrige kleine Rechtsanwalt zumindest in Mitteldeutschland noch immer, auch wenn er nur noch außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion ist.

Aber es sind weniger als früher, die ihn letztlich hören wollen. Die Linkspartei macht in Corona-Zeiten einen verschärften demographischen Wandel durch: Die Alten sind im Lockdown klammheimlich von der roten Fahne gegangen; aus Angst vor der Pandemie, aus Ratlosigkeit im Umgang mit Online-Stammtischen und -Diskussionen. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die jetzt für linke Ideen schwärmen, sind ihnen fremd. Diese aber wiederum sind der Partei längst nicht so treu und ergeben wie die Generation ihrer Großeltern. Einige trifft man heute bei den Linken, morgen bei der SPD, übermorgen bei den Grünen und tags darauf vielleicht bei marxistischen oder trotzkistischen Splitterparteien oder gerade entstandenen Protestbewegungen. 

Im Wahlkampf herrscht Burgfrieden in der Partei

Immerhin, zum Plakatieren hat die Kraft der Ortsverbände noch gereicht. „Zeit zu handeln! Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit“ steht überall im Land zu lesen. Dabei hatten die Parteivorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler noch im März – kurz nach dem Bundesparteitag – den Genossen versichert, es sei die richtige „Zeit für einen neuen linken Aufbruch und diese müsse in eine neue Dynamik verwandelt werden: Mit radikaler Haltung und kritischem Realismus, für einen neuen Blick nach vorn“.

Die alte Losung vom Klassenkampf und dem Ringen um eine bessere Gesellschaft wurde beschworen, Eingriffe in die Wirtschaftspolitik verlangt, Investitionen in die Infrastruktur, für den Klimaschutz, mehr Demokratie und „Mut, sich mit den Mächtigen und Profiteuren dieses Wirtschaftssytems anzulegen“. Aber alles ist verpufft. Nicht einmal mit ihrem Traum einer sozial gerechten, ökologischen und friedlichen Zukunft, frei von Ausbeutung, konnte die Partei punkten; wo doch die „Frage der Gerechtigkeit“, wie Wissler immer wieder betont, alle der Partei wichtigen Themen bestimme. Bei der Bundestagswahl geht es für die Linke erneut um alles oder nichts. Den jüngsten Umfragen zufolge ist nicht einmal sicher, ob die Partei die Fünfprozenthürde überwindet. Statt der anvisierten Zweistelligkeit dümpelt die Linke bei sechs bis sieben Prozent vor sich hin. Andererseits profitiert sie mittelbar vom Aufwind für die SPD. Schon länger hatte Linken-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch unaufhörlich in die Öffentlichkeit posaunt: „Wir sind bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen.“ Nun aber könnte sich die Partei tatsächlich als Mehrheitsbeschaffer für ein Linksbündnis anbieten. 

Zwar liebäugeln die Kanzlerkandidaten von SPD und Grünen, Olaf Scholz und Annalena Baerbock, öffentlich eher mit einer Ampel-Koalition im Bündnis mit der FDP, sollte es wie erwartet für Rot-Grün allein nicht reichen. In weiten Teilen ihrer Parteien sieht das jedoch ganz anders aus. Und echte rote Linien haben die schon längst nicht mehr gezogen, wenn es um eine mögliche Beteiligung der Einheitspartei aus SED-Nachfolgern und westdeutschen Linksradikalen an einer neuen Bundesregierung geht. 

Scholz bringt dies natürlich in Bedrängnis, liefert eine fehlende Distanzierung doch dem hinter ihm liegenden Unions-Konkurrenten Armin Laschet Wahlkampf-Munition à la „Rote Socken“. Nichts aber soll die Wechselwähler in der Mitte abschrecken. Daß die Linksfraktion den Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Kabul ablehnte, „war schlimm“, meinte Scholz und bekräftigte, „ein klares Bekennt­nis zur Nato, zu soli­den Haus­hal­ten und zur trans­at­lan­ti­schen Part­ner­schaft“ seien „unver­han­del­bare Mindestanforderungen“ für eine Koalition. Die Linken-Spitzenkandidaten Wissler und Bartsch betonten am Montag bei der Vorstellung ihres „Sofortprogramms“ indes, weder Scholz noch die SPD-Vorsit­zen­de Saskia Esken hätten ein Bünd­nis mit der Linken ausge­schlos­sen. Bartsch nannte die Nato-Debat­te „eini­ger­ma­ßen abstrus“. Seine Partei wolle deutschland zum „Abrüs­tungs­welt­meis­ter“ machen, ohnehin würden die „zentra­len Fragen die innen­po­li­ti­schen Fragen sein“, so Bartsch. Und da müßten sich SPD und Grüne eben bekennen, ob sie es ernst meinen mit einem „progressiven Bündnis“. Die Entscheidung laute „Linke oder Lind­ner“.

Immerhin zeigt die Linke Geschlossenheit nach außen. Das Lager um Sahra Wagenknecht, das im Februar beim Bundesparteitag fast komplett aus der Parteiführung gedrängt worden war, hat seine Drohung, eine eigene Partei zu gründen, mangels Masse nicht umgesetzt. Wagenknecht, nordrhein-westfälische Spitzenkandidatin, sorgte zwar mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ für Unruhe, in dem sich gegen eine geschlechtergerechte Sprache wetterte, die bedingungslose Aufnahme von Einwanderern kritisierte sowie generell mit der „Lifestyle-linken“ Identitätspolitik abrechnete; doch nun tauchte sie samt Ehemann und Ex-Parteichef Oskar Lafontaine zu einem vielbeachteten gemeinsamen Auftritt mit Parteichefin Hennig-Wellsow in Weimar auf, die ihrerseits ihre Freude „über die Unterstützung von Sahra und Oskar“ bekundete. In den Wochen bis zur Bundestagswahl gehe es darum, „gemeinsam für eine soziale Politik für die Mehrheit der Gesellschaft in unserem Land“ zu streiten. Passenderweise lehnte am vergangenen Wochenende die Landesschiedskommission der Linken in Nordrhein-Westfalen die Anträge auf einen Parteiausschluß Wagenknechts einstimmig ab.

Unterdessen forderte die Bundesvorsitzende der Linksjugend Solid, Carla Büttner, im Interview mit der Funke-Mediengruppe einen „Systemwechsel hin zum Sozialismus“ und verteidigte auch den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel. „Antifaschismus und Antikapitalismus sind nicht immer gewaltfrei. Aber deswegen würde ich mich nicht davon distanzieren“, meinte die Chefin des Parteinachwuchses.

Foto: Zugpferd Gregor Gysi spricht bei einer Wahlkampfveranstaltung: „Linke oder Lindner“ – das ist die Frage