© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

„Wir greifen den Irak an. Warum?“
Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001 rechtfertigten die amerikanischen Neocons ihre Kriege: Die Begründungen und Aktionen waren seltsam, die Resultate so blutig wie katastrophal
Bruno Bandulet

Es war ein singuläres Ereignis, als am 11. September 2001 um 8.46 Uhr Ortszeit das erste von vier entführten Passagierflugzeugen sein Ziel erreichte und in den Nordturm des World Trade Centers in New York raste. Singulär, weil noch nie ein Terroranschlag so viele Opfer gefordert hatte. Singulär, weil die Amerikaner als Herren des Himmels in allen Kriegen nie selbst aus der Luft angegriffen worden waren. Singulär, weil das Attentat ein außergewöhnliches Maß an langfristiger Planung, exakter Koordination und technischer Expertise erforderte. Und singulär, weil „Nine Eleven“ zwei Jahrzehnte amerikanischer Politik prägen und dominieren würde.

Präsident George W. Bush, der erst im Januar 2001 das Amt von Bill Clinton übernommen hatte, proklamierte den „War on Terror“. Die Nato rief zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus. In Washington wurden mit dem „Patriot Act“ bürgerliche Rechte und Freiheiten beschnitten, die den Amerikanern bis dahin sakrosankt waren. Und am 7. Oktober 2001 begann der Krieg in Afghanistan, etwas später auch mit Beteiligung der Bundeswehr, die erst nach zwei Jahrzehnten ihren objektiv gescheiterten Einsatz beendete.

Die offizielle Begründung, den 11. September mit dem Einmarsch in Afghanistan und der Besetzung des bitterarmen Landes zu beantworten, war wie so vieles beim „Krieg gegen den Terror“ fragwürdig. Zwar hatte Osama bin Laden, Gründer, Geldbeschaffer und Ikone des Netzwerkes al-Qaida, im Frühjahr 1996 den Sudan verlassen und sich mit seinen Leuten nach Afghanistan abgesetzt. Zwar hatte er dort, wie zuvor im Sudan, Trainingscamps für Terroristen aufgebaut, in die frische Rekruten aus vielen Teilen der islamischen Welt strömten. Aber unter den 19 Attentätern des 11. September befand sich kein einziger Afghane. 15 kamen aus Saudi-Arabien, einem Verbündeten Amerikas, und auch die anderen vier waren Araber. Drei der Selbstmordattentäter hatten seit Jahren in Hamburg gelebt, andere hatten sich in Flugschulen auf amerikanischem Boden ausbilden lassen. Die Taliban selbst waren nicht im Geschäft mit dem Terror-Export. Sie fungierten wie zuvor der Sudan als Gastgeber von al-Qaida.

Jürgen Todenhöfer, ein ausgewiesener Afghanistan-Kenner, setzte sich damals leidenschaftlich dafür ein, das Land zu verschonen und die Machthaber in Kabul in geduldigen Verhandlungen dazu zu bewegen, bin Laden und seiner Gefolgschaft die Gastfreundschaft aufzukündigen. Beliebt bei der Bevölkerung waren die fremden Araber ohnehin nicht. Mit der Befürchtung, daß vor allem die Bevölkerung unter dem Krieg leiden würde, sollte er recht behalten.

Neocons instrumentalisierten Antiterrorkrieg für andere Agenda

Oder hatten die Amerikaner vielleicht andere Motive und Prioritäten? Nach Beginn der Intervention versäumten sie es, einen schnellen, entscheidenden Schlag gegen al-Qaida zu führen. Erst Ende November 2001 wurden mit den Marines Bodentruppen eingesetzt. Sie versuchten weder, die Führung von al-Qaida gefangenzunehmen, noch ihr Entkommen zu verhindern, noch die Grenze nach Pakistan abzuriegeln. Erst Mitte Dezember wurde das hochgelegene Tal von Tora Bora angegriffen, wohin sich ein Teil der Terroristen zurückgezogen hatte – eine Operation ohne Erfolg. Bin Laden ging nach Pakistan und residierte in einer Garnisonsstadt des pakistanischen Militärs, wo er 2011 von amerikanischen Kommandos erschossen wurde. Eine Aktion mit hohem Symbolwert, obwohl er selbst offenbar nicht der operative Kopf hinter dem New Yorker Attentat gewesen war.

Spätestens zwei Jahre nach dem 11. September war unübersehbar, daß der Krieg gegen den Terror von der „neokonservativen“ Kriegspartei in Washing­ton instrumentalisiert wurde, um eine ganz andere Agenda voranzutreiben. Generalleutnant Wesley Clark, von 1997 bis 2000 Nato-Oberbefehlshaber in Europa und ein unverdächtiger Zeitzeuge, erzählte im Oktober 2007 anläßlich einer Buchpräsentation in San Francisco, was ihm der führende Neocon Paul Wolfowitz schon 1991 anvertraut hatte: „Ich denke, daß wir noch fünf bis zehn Jahre Zeit haben, um unter den alten sowjetischen Klientelregimen aufzuräumen – Syrien, Iran, Irak. Bis dann die nächste Supermacht auf den Plan tritt und uns Grenzen setzt.“

Wenige Tage nach dem 11. September 2001 hielt sich Wesley Clark im Pentagon auf, sprach mit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und seinem Stellvertreter Wolfowitz und setzte sich anschließend mit einem General vom Gemeinsamen Oberkommando zusammen, den er gut kannte. Der sagte ihm: „Wir haben soeben beschlossen, den Irak anzugreifen.“ Das war nach Clarks Erinnerung um den 20. September. Clark wunderte sich: „Wir greifen den Irak an? Warum?“ Die Antwort illustriert besser als alles andere, wie damals hinter den Kulissen in Washington Weltpolitik gemacht wurde. „Keine Ahnung“, gestand der General, „sie haben einfach beschlossen, dem Irak den Krieg zu erklären. Ich denke, niemand weiß genau, wie man mit den Terroristen umgehen soll. Aber wir haben ein gutes Militär, und wir können Regierungen stürzen. Ich stelle mir das so vor: Wenn das einzige Werkzeug, das ich habe, der Hammer ist, dann muß ich eben dafür sorgen, daß jedes Problem wie ein Nagel aussieht.“

Sie, das waren dieselben Leute, die nach dem Amtsantritt von Bush im Januar 2001 die Terrorgefahr kleingeredet, die Warnungen des Geheimdienstes CIA mißachtet und die Abteilung von Richard A. Clarke, des für Terrorabwehr (Counter-Terrorism) zuständigen Beamten, degradiert hatten. Anläßlich einer Besprechung im April 2001 warnte Clarke, daß nur al-Qaida eine „unmittelbare und ernste Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellt“. Wolfowitz behauptete, die Terrorgefahr gehe statt dessen vom Irak aus, Clarke widersprach vehement, Wolfowitz warf ihm vor, bin Laden zu überschätzen: „You give bin Laden too much credit.“

Tatsächlich waren der Angriff auf den Irak 2003 und der Sturz Saddam Husseins, der mit den Islamisten nichts zu tun hatte, Bestandteil einer größeren Strategie, die darauf abzielte, die politische Landschaft des Nahen und Mittleren Ostens umzupflügen und unbequeme Regierungen im Zuge eines „regime change“ durch amerikahörige zu ersetzen. Die Strategie lief unter dem Deckmantel des „War on Terror“. Sie scheiterte katastrophal, sie brachte mindestens einer Million Zivilisten den Tod, sie verschuldete die USA mit mehreren Billionen Dollar – bis sie von Donald Trump und dann von Joe Biden abgewickelt wurde, nachdem schon Barack Obama, zögerlich und inkonsequent, begonnen hatte, davon Abstand zu nehmen und den Schwerpunkt der amerikanischen Geopolitik in den pazifischen Raum zu verlagern.

Spätere IS-Führung in Haft mit Saddams Geheimdienstlern

In Libyen intervenierten die Westmächte militärisch, stürzten Gaddafi und hinterließen Chaos und einen gescheiterten Staat, auch mit dem Ergebnis, daß libysche Waffen und Söldner in die instabile Sahelzone gelangten. In Syrien schürten arabische Gelder, amerikanische Waffen und Kommandos zusammen mit der Türkei einen grausamen Bürgerkrieg, ohne daß der Machthaber Assad vertrieben werden konnte. Und in Afghanistan sind die Taliban zurück an der Macht, nachdem sie schon 2019 zusammen mit amerikanischen Kräften gegen Stützpunkte des IS in Afghanistan gekämpft hatten.

Der wohl verhängnisvollste Fehler in diesen 20 Jahren war die Aggression gegen den Irak. Er verschaffte al-Qaida und anderen Terrormilizen eine grandiose propagandistische Steilvorlage. Er nährte den Terror. Die Ursprünge des Islamischen Staates, der schließlich je ein Drittel des irakischen und des syrischen Staatsgebietes kontrollierte, gingen zurück auf den Irakkrieg und nicht zuletzt auf das US-Gefängnis Camp Bucca im Südirak. Dort war ein Großteil der späteren IS-Führung zusammen mit Geheimdienstoffizieren und Top-Militärs des Saddam-Regimes inhaftiert, ohne die der blutige Feldzug des IS nicht möglich gewesen wäre.

Auch Abu Bakr al-Baghdadi, der 2014 im Namen des IS das Kalifat ausrief, saß in Camp Bucca ein. Dort wurde die Terrorallianz geschmiedet, die später nur dank des Einsatzes iranischer Eliteeinheiten und schiitischer Milizen – Gegnern Amerikas also – besiegt, aber nicht eliminiert werden konnte. Der IS existiert immer noch in weiten Teilen Afrikas und Asiens, sein Terror bedroht immer noch Europa.

So geriet der 2001 von Bush ausgerufene „Krieg gegen den Terror“ von Anfang an auf Abwege und, alles in allem, zum Fiasko. Die Realpolitiker in Paris gingen bereits vor zehn Jahren auf Distanz. Zum Mißfallen der Amerikaner begannen sie 2011, ihre am Hindukusch stationierten Truppen abzuziehen. 2014 verließen die letzten 500 französischen Soldaten Afghanistan. Ein Beispiel strategischer Einsicht und ein Kontrast zu Frankreichs mißratenen Interventionen in Libyen und Syrien.

Selbst unter der Annahme, daß die Bundesregierung die französische Lagebeurteilung teilte, traute sie sich nicht, daraus Konsequenzen zu ziehen. Übrigens: Der wohl teuerste Preis, den die Deutschen und andere Europäer für die amerikanische Hybris zahlten, war die noch andauernde Fluchtbewegung aus der destabilisierten Region zwischen Nordafrika und Zentralasien in Richtung der Wohlstandsinsel Europa.





In Boston startet eine Boeing 767 der American Airlines, Flug 11, mit Kurs auf Los Angeles. 

Eine Boing 767 der United Airlines, Flug 175, hebt in Boston Richtung Los Angeles ab. Zeitgleich wird das erste Flugzeug als entführt gemeldet.

Von Washington aus nimmt eine Boing 757 der American Airlines, Flug 77, Kurs auf Los Angeles. 

Die Maschine der American Airlines, Flug 11, stürzt in den Nordturm des Welthandelszentrums, des World Trade Centers (WTC), in New York. 

Die Boeing der United Airlines, Flug 175, kracht in den Südturm des WTC. Beide Türme sind 110 Stockwerke hoch. 

US-Präsident George W. Bush sitzt in einer Schulklasse in Sarasota (Florida), als Stabs-chef Andrew Card ihm erste Informationen über die Anschläge ins Ohr flüstert. „Amerika wird angegriffen.“ Bush bleibt wie versteinert sitzen. 

Flug UA 93 wird entführt. Die Boeing 757 stürzt später in Pennsylvania ab.

Das Washingtoner Verteidigungsministerium wird Ziel eines Anschlags. Offiziellen Angaben zufolge wird es von der American Airlines, Flug 77, getroffen.

Der südliche Büroturm des World Trade Centers stürzt in sich zusammen. 

Der Nordturm des WTC stürzt ein. 

Präsident Bush kündigt Vergeltung an: „Die USA werden die Verantwort-lichen für die feigen Anschläge jagen.“ 

Das von den Flugzeugen nicht getroffene Gebäude Nummer 7 des World Trade Centers mit seinen 47 Etagen stürzt nach stundenlangen Bränden ein.

Foto: Vor dem Einschlag: Weitere apokalyptische Szenen sollten folgen. Innerhalb und außerhalb Amerikas