© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Expansion der Werte
USA: Nach dem Desaster in Afghanistan müht sich US-Präsident Biden mit einer neuen Sicherheitspolitik
Marc Zoellner

Bereits sechsmal, so recherchierte die US-Tageszeitung Washington Post, hatte der demokratische US-Präsident Joe Biden öffentlich die irrtümliche Annahme der US-Regierung bekundet, „daß die mehr als 300.000 von uns in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgebildeten und ausgerüsteten Angehörigen der Nationalen Afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) im Bürgerkrieg ein starker Gegner gegen die Taliban wären.“ Für die Post war die fünfte Wiederholung dieser Behauptung willkommene Gelegenheit, Anfang September in offiziell zugänglichen Dokumenten nachzuforschen – und Biden im Anschluß gleich drei von vier „Pinocchios“ auf der zeitungseigenen Skala der Falschaussagen zu verleihen.

„Etwa 40 Prozent davon bestand aus Polizisten der Afghanischen Nationalpolizei (ANP), die weder eine militärische Rolle spielten noch überhaupt mutmaßlich befreite Gebiete sichern konnten“, wies Anthony Cordesman, Strategieexperte des Washingtoner „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS), Bidens Behauptung prompt zurück. Immerhin hätte Afghanistan sonst als besser bewaffnet gegolten als sämtliche Mitgliedsstaaten der Nato, ausgenommen die USA und die Türkei. „In Betrachtung der zum Kampfeinsatz verfügbaren Truppen ist es sehr wahrscheinlich, daß die afghanische Regierung nur leicht in der Überzahl gegen die Taliban war“, pflichtete Henry Boyd vom Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) seinem US-Kollegen bei. Angesichts dieser desaströsen Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan stellt sich die Frage, wie tiefgründig sich Joe Biden in den weltpolitischen Ist-Zustand eingearbeitet hat, und was genau von einer Außenpolitik der USA unter ihrem neuen Präsidenten in den kommenden Monaten zu erwarten ist.

Interventionistische Politik steht auf dem Prüfstand

Wenige Stunden nachdem der letzte US-Soldat Kabul verlassen hatte, wandte sich Biden vom Weißen Haus aus an die Nation und feierte die Evakuierung von 124.000 Zivilisten in den 17 Tagen nach dem Fall Kabuls. Dabei betonte er, daß es sei an der Zeit sei, die Rolle der USA im Ausland „neu zu bewerten“. Zugleich betonte er eine weniger interventionistische Politik betreiben zu wollen: „Bei dieser Entscheidung über Afghanistan geht es nicht nur um Afghanistan. Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.“

Immerhin war der demokratische Präsidentschaftskandidat vergangenen Herbst mit dem Versprechen einer auf internationaler Partnerschaft fundierten Politik des Verhandelns in den Wahlkampf gezogen. „Wir müssen eine Diplomatie beginnen, die in Amerikas ehrenvollsten demokratischen Werten verwurzelt ist“, betonte Biden in seiner ersten wichtigen außenpolitischen Rede im Februar dieses Jahres vor dem Publikum des US-Außenministeriums. „Die Freiheit zu verteidigen, die universellen Menschenrechte aufrechtzuerhalten, die Rechtsstaatlichkeit zu achten und jegliche Person mit Würde zu behandeln.“ 

Als deutungsschwangeres Signal dieser neuen Ära verschob Biden just sein einführendes Telefonat mit dem Herrscherhaus Saudi-Arabiens, welchem von Washington die Ermordung des regierungskritischen Bloggers Jamal Khashoggi im Oktober 2018 angelastet wird, und betonte, künftig nur noch mit dem saudischen König selbst zu sprechen, den de facto regierenden Kronprinzen Mohammed Bin Salman (MBS) hingegen lediglich noch in dessen Rolle als Verteidigungsminister kontaktieren zu lassen.

Sicherheitspolitisch zeichnete sich hier bereits die neue internationale Gangart der Biden-Regierung für den Nahen Osten ab: Rühmte sich der damalige US-Präsident Donald Trump noch der persönlich hervorragenden Kontakte zu MBS, konstatierte der neue US-Außenminister Antony Blinken demonstrativ, den Kronprinzen für dessen Rolle bei der Ermordung Khashoggis einzig nicht sanktionieren zu wollen, „weil die Beziehung mit Saudi-Arabien wichtiger ist als irgendeine Einzelperson.“ Trotz alledem ließ Biden sämtliche Lieferungen moderner Waffensysteme nach Riad aussetzen. Mit der gleichzeitigen Streichung der jemenitischen Huthi-Miliz, die sich seit 2015 im Krieg mit Saudi-Arabien befindet, von der Liste der ausländischen Terrorgruppen hofft Biden schon im kommenden Jahr auf eine diplomatische Lösung des blutigen Jemen-Konflikts, und sei es auch zum strategischen Nachteil Saudi-Arabiens.

Es ist ein Rückzug mit Ansage sowie deutlicher Stoßrichtung, die den US-Präsidenten veranlaßt, das militärische Engagement der USA im Nahen und Mittleren Osten zugunsten verhandlungsorientierter Strategien zu beenden: Zwar bekundete Biden noch im Wahlkampf, der von Trump eingeleitete Truppenabzug im Norden Syriens sei „ein Verrat an den Kurden“ sowie „die beschämendste Sache, die ein US-Präsident in der Geschichte der US-Außenpolitik je begangen hat.“ 

Allein die überstürzte Evakuierung der US-Truppen dürfte diese Aussage jedoch deutlich relativieren. Dennoch sehen Analysten Bidens hegemoniale Ambitionen künftig vom Orient auf die zwei Großmächte Rußland und China verlagert. „Wir müssen uns auf einen lange Zeit dauernden strategischen Wettbewerb einstellen“, erklärte Biden auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Dieser Wettbewerb mit China wird richtig heftig.“

„Wird Präsident Biden einen neuen Kalten Krieg gegen China führen?“, titelte die Washington Post  im Dezember vergangenen Jahres angesichts des Säbelrasselns des frisch gewählten Staatsoberhaupts. „Das Strategiebuch des Kalten Kriegs könnte den Vereinigten Staaten sogar helfen, China entgegenzutreten“, brachte Post-Autor Gregory Mitrovich damals als Argument hervor: So, um die Welt von den Vorteilen der westlichen Demokratie und der freien Marktwirtschaft zu überzeugen, den „chinesischen Traum“ zu entzaubern sowie die drohende Schuldenfalle von Chinas „Neuer Seidenstraße“ für viele kleinere Teilnehmerstaaten aufzudecken. 

Die außenpolitische US-Fachzeitschrift Foreign Policy allerdings warnte noch diesen April: „Der Wettbewerb der Großmächte ist das Rezept für ein Desaster“ – nämlich einzig für die USA, die unter Biden vierzig Jahre diplomatischer Annäherung zwischen Peking und Washington verspielen könne.

Klare Kante gegenüber „russischen Aggressionen“

Für Biden haben die Kriege im Vorderen Orient ihr historisches Ende gefunden. In seiner bereits erwähnten Antrittsrede im US-Außenministerium erwähnte er die weltweiten Rechte Homosexueller gleich mehrfach, den Afghanistankonflikt allerdings mit keinem einzigen Wort.

Um seiner neuen außenpolitischen Leitlinie auf dem Terrain alter Schlachtfelder den Rücken zu decken, versprach Biden dafür noch Ende Juli, das Atomabkommen mit dem Iran wiederherzustellen. Zum Unwillen Teherans selber, dessen Machthaber vergangenen Mittwoch erneut erklärten, frühestens „in zwei bis drei Monaten“ zu Gesprächen bereit zu sein. Erst vor zwei Wochen hatten die USA weitere Sanktionen gegen zwei russische Unternehmen aufgrund ihrer Beteiligung an der „Nord Stream“-Pipeline verhängt.

Daß sich die USA in sicherheits- und wirtschaftspolitischen Fragen weiter der Ukraine als regionalem Gegenspieler Moskaus annähern werden, gilt spätestens seit dem Staatsbesuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Ende August als ausgemacht. „Die Tage, als die USA angesichts der russischen Aggressionen wie zu Zeiten meines Vorgängers einfach umkippen, sind vorüber“, hatte Biden in seinem ersten präsidialen Telefonat mit Rußlands Präsidenten Wladimir Putin in bewußt schroffem Tonfall geäußert.