© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Grüße aus … Bern
Der Chef erkennt mich
Frank Liebermann

Endlich ist es soweit. Ich kann wieder  nach draußen gehen. Zuerst hinderte mich der Corona-Lockdown an diesem Vergnügen, dann eine körperliche Beeinträchtigung, die eine Operation mit anschließender Ruhephase zur Folge hatte. Beides ist jetzt erfolgreich überwunden. Mutig verabrede ich mich mit einem Kollegen, der ebenfalls mal wieder unter Menschen möchte.

Zuerst wackeln wir in einen Feinkostladen. Die ersten Getränke gedenken wir unregistriert auf der kleinen Schanze zu konsumieren. Das ist ein übersichtlicher Park, nur wenige Meter vom Bundeshaus, dem Sitz von Regierung und Parlament, entfernt und zentral gelegen. Dort tummeln sich Studenten, Politiker und andere Städter, welche die letzten Sonnenstrahlen vor dem Feierabend ausgiebig genießen möchten. 

Einige andere Stammgäste der Kneipe sind vorhanden, aber deutlich weniger als früher. 

Die obligatorischen Cannabiskonsumenten ziehen an ihren Joints und verbreiten ihren Duft, während wir an unseren Bierdosen nuckeln. Ein schwer alkoholisierter Jugendlicher in verschmutzter Kleidung zieht die Aufmerksamkeit des Parks auf sich. Er läuft an den dort Herumlungernden vorbei, bepöbelt sie, spuckt auf den Boden und zeigt den Stinkefinger. Da er klein und schmächtig ist, finde ich das durchaus mutig. Er hat Glück. Alle ignorieren ihn, wir tun das ebenfalls. Er verläßt den Park, vermutlich auf der Suche nach neuen Opfern.

Nach der dritten Dose drückt die Blase. Wir beschließen, in eine Kneipe zu wechseln. Ich bin total aufgeregt. Fast vier Monate war ich nicht in meiner Stammkneipe. Ob mich der Wirt wiedererkennt? Und schaffe ich es, fehlerfrei ein Bier zu bestellen? Kann ich erfolgreich den Barhocker erklimmen? Fragen über Fragen.

Als wir ankommen, merke ich, die Nervosität war umsonst. Den Barhocker bezwinge ich wie Reinhold Messner den Mount Everest. Sofort werde ich freundlich angestrahlt. Der Chef erkennt mich nach der langen Zeit wieder. 

Unaufgefordert zapft er mir mein Lieblingsbier. Bevor ich mein Bier bekomme, muß ich mich mit dem Mobiltelefon registrieren. Da legt der Chef Wert drauf. Einige andere Stammgäste sind vorhanden, aber deutlich weniger als früher. 

Am Tresen sind Plastikwände aufgestellt, so daß ein großer Abstand zwischen den Gästen besteht. Grundsätzlich ist das ja ein Vorteil. Ich schätze diese Distanz. Dann brauche ich mir keine Sorgen zu machen, daß mir ein aufdringlicher Zeitgenosse auf die Pelle rückt. Der Wirt erzählt uns, daß es für ihn bedrohlich ist. Eigentlich bräuchte er die Wände nicht. Er hat wegen Corona so wenig Gäste, daß er ohne diese die Abstände einhalten könne.

Nur schade: Schon ab dem 13. September sollen nur noch Geimpfte, Genesene und Getestete in seine Kneipe kommen.