© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Säbelrasseln gen Osten
Polen: Warschau warnt Minsk vor Infiltration mit Migranten
Paul Leonhard

Schlechte Zeiten für Schmuggler an der Ostgrenze der EU. Polen hat den Ausnahmezustand für 30 Tage verhängt. Betroffen sind 183 Ortschaften in zwei der 16 Woiwodschaften: in Podlachien115 und in Lublin (Lubelskie) 68. Erstere umfaßt den nordöstlichen Teil Polens und grenzt im Nordosten an Litauen und im Osten an Weißrußland, letztere an die Ukraine und Weißrußland. Die Staatsgrenzen wurden hier einst nach den Vorstellungen Stalins gezogen, also mitten durch Siedlungsgebiete und Familien, so daß insbesondere die Region um Bialystok als Paradies der Schmuggler und Grenzgänger gilt. Das ist jetzt vorbei. Alle nicht hier ansässigen Menschen mußten die Region verlassen, auch die Urlauber.

Nicht nur Polen rasselt gegenüber dem östlichen Nachbarn Weißrußland mit dem Säbel. Auch Litauen und Lettland, wo ebenfalls ein Ausnahmezustand gilt. Alle Aktionen seien mit den Behörden in Wilna und Riga abgestimmt, sagte Mariusz Kamiński, Leiter des Innen- und Verwaltungsministeriums, gegenüber Polsat News. Polen verteidige nicht nur seine eigene Grenze , sondern auch die Außengrenze der EU. Wenn Weißrußlands Präsident Alexander Lukaschenko eine Migrationskrise und damit eine politische und soziale Krise schaffen wolle, so „machen wir es unmöglich“, betonte Kamiński, der sogar von „Kriegsrecht“ sprach.

Camp auf weißrussischem Gebiet sorgt für politischen Zündstoff 

Während Alexander Lukaschenko den Westen vorführt, indem er sein Land als Fluchtroute für Migranten offenhält, ist Warschau über dessen Schachzüge beglückt, weil der Grenzkonflikt von eigenen Problemen mit Brüssel und innenpolitischen Konflikten – die Regierungskoalition „Vereinte Rechte“ ist gerade zerbrochen – ablenkt. 

Angaben des polnischen Wochenmagazins Wprost vereitelten polnische Grenzschutzbeamte  am 4. September 200 Versuche des illegalen Grenzübertritts. Sieben Migranten seien festgenommen worden. Alle von ihnen seien irakische Staatsbürger gewesen. Zwei polnische Staatsangehörige und ein syrischer Staatbürger mit deutscher Aufenthaltsgenehmigung seien ebenfalls wegen Beihilfe festgenommen worden.

Für politischen Zündstoff  sorgen 32 mutmaßliche Afghanen. Diese campieren seit vier Wochen in nahe dem ostpolnischen Ort Usnarz Górny – noch auf weißrussischem Gebiet. Nach Angaben des polnischen Radiosenders FM kommunizierten bis zur Verkündung des Ausnahmezustands mit diesen Mitarbeiter der polnischen Stiftung Ocalenie (Errettung) per Megaphon über die Grenze hinweg. Das Lager sei in östlicher Richtung von weißrussischen Grenzwächtern blockiert, in westlicher von polnischen.

EU-Politiker uneins über Bewertung der Lage in Polen 

Natürlich ist alles politisches Kalkül und Kräftemessen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt nach Angaben des polnischen Informations- und Musiksenders RMF 24, daß Polen im Grenzgebiet eintreffenden Migranten Nahrung, Kleidung, medizinische Versorgung und wenn möglich auch Unterkünfte zur Verfügung stellt. Weißrußland verweigert aber die Einreise eines Konvois mit humanitärer Hilfe auf sein Hoheitsgebiet. Und statt sich um eine Entschärfung der Situation zu bemühen, bastelt die EU an neuen Sanktionen gegenüber Minsk.

Die polnische Opposition wiederum protestiert gegen die von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki unterzeichnete Verordnung des Ministerrates, mit der mit Wirkung vom 2. September für vorerst 30 Tage bürgerliche Rechte und Freiheiten wie das Aufenthalts- und Versammlungsrecht außer Kraft gesetzt wurden. Betroffen ist auch die Pressefreiheit. Journalisten dürfen sich in dem Sperrgebiet nicht aufhalten. Es ist verboten, die Grenzanlagen, Polizisten und Soldaten zu fotografieren oder zu filmen.

Die EU-Politiker sind sich noch uneins, wie sie die polnischen Maßnahmen bewerten sollen und ob eine derartige Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten tatsächlich gerechtfertigt ist. Die Lage vor Ort sei „schwierig“, räumt die Pressestelle der Europäischen Kommission ein, aber „hinsichtlich der möglichen Auswirkungen als auch der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ werde die Ausnahmezustandsverordnung erst einmal genau geprüft. Von einer „absurden“ Maßnahme spricht derweil der ehemalige polnische Innenminister Marek Biernacki in einem Fernsehinterview: „Man führt ihn normalerweise in einer kritischen Situation ein, in der die Staatsorgane nicht mehr auf die übliche Art und auf der Grundlage bestehenden Rechts agieren können.“ 

Innenminister Kamiński spricht dagegen von der „Spitze des Eisbergs, den uns Lukaschenko spendieren möchte“. Man werde nicht zulassen, daß Polen „zu einer weiteren Route für illegale Masseneinwanderung in die Europäische Union wird“.

„Wir nehmen Personen fest, die wahrscheinlich mit den weißrussischen Diensten zusammenarbeiten und mit dem Lukaschenko-Regime versuchen, Einwanderer illegal nach Polen zu schmuggeln“, betonte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki Anfang der Woche. Er appellierte dabei an Weißrußland, diese Versuche zu unterbinden.