© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

„Wir können einfach nicht mehr“
Gastgewerbe: Die Corona-Regelungen haben viele Unternehmer in der Branche ruiniert / Trotz Existenzvernichtung handzahme Verbandsvertreter
Martina Meckelein

An diesem Abend wird einzig die Aufzugsfahrt in den vierten Stock des Paul-Löbe-Hauses im Berliner Regierungsviertel aufwärts führen. Im Saal 4.900 herrscht nicht nur wegen Maske und Abstand gedrückte Stimmung. Wie sehr leiden Gastronomie, Tourismus und deren Zulieferer unter der Corona-Politik? „Die vergessenen Branchen“, nennt sie Steffen Kotré, der Wirtschaftssprecher der AfD-Bundestagsfraktion. Der 51jährige Speewälder hat betroffene Unternehmer, Abgeordnete aller Parteien, Journalisten, Anwälte und Künstler eingeladen. Allerdings bleiben einige der 45 Plätze im Saal leer, doch dazu später.

„Wir können einfach nicht mehr“, sagt Sven Jäger (56) von der Diskothek Lichtenrader Eck, in Berlin, die er vor 18 Jahren mitbegründet hat und die jetzt von seiner Tochter weiterbetrieben wird. „Viele von uns sind verzweifelt, sie haben alles verloren bis hin zum Eigenkapital und den Lebensversicherungen.“ Doch wie konnte es trotz milliardenschwerer Corona-Hilfen so weit kommen? „Die Touristikbranche mit ihren 1,5 Millionen Angestellten war einmal eine blühende Branche mit sieben bis acht Prozent Wachstum“, sagt Bernd Muckenschnabel (69), bis 2018 Aufsichtsratschef des Ferienhausvermittlers Novasol. „Jetzt haben wir 40 Prozent Umsatz verloren. Und wir dürfen nicht vergessen, daß an der Branche Zulieferer, Flug- und Schiffshäfen hängen – all die werden ebenfalls in Ruinen liegen.“

Der Umsatz im Gastgewerbe ist im Juni im Vergleich zu Mai preisbereinigt um 61,7 Prozent gestiegen, vermeldete hingegen das Statistische Bundesamt – also alles nicht so schlimm? Nein, der Umsatz lag „kalender- und saisonbereinigt real noch 40,7 Prozent unter dem Vorkrisenniveau des Februars 2020 und war real geringfügig niedriger als im Juni 2020“, so die Wiesbadener Behörde im Kleingedruckten. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) verbreitet dennoch Zuversicht: „Dank der Lockerungen und der gestiegenen touristischen Nachfrage geht es im Gastgewerbe wieder aufwärts. Im August 2021 lagen die Umsätze 5,7 Prozent unter den Augustwerten des Vorkrisenjahres 2019.“ Das sei der beste Wert, der in einer monatlichen Dehoga-Umfrage seit Beginn der Pandemie im März 2020 festgestellt wurde, findet Verbandspräsident Guido Zöllick.

Muckenschnabel kann darüber nur den Kopf schütteln: „Wir brauchen nicht diese unglaublich skandalöse Schleicherei unserer Verbände. Es wird doch nur suggeriert, daß es Erleichterungen gäbe. Die Bürokratie macht die Produktivität unmöglich.“ Sven Jäger erlebt es tagtäglich: „Die Minister Peter Altmaier und Olaf Scholz haben doch unbürokratische und schnelle Hilfe versprochen, das Gegenteil ist der Fall. Die Überbrückungshilfen kommen viel zu spät, teils können wir sie noch gar nicht beantragen, deshalb müssen wir wieder vorfinanzieren. Also Kredite und Darlehen aufnehmen. Und so entstehen dann die Insolvenzen.“ Einige Gastronomen halten diese absolute Existenzangst nicht mehr aus. Jäger kennt aus seinem persönlichen Umfeld mehrere Gastwirte, die Selbstmord begangen haben.

Und selbst wenn die Wirte überleben – ihnen fehlt nun das Personal: „368.000 Mitarbeiter sind aus der Gastronomie abgewandert. Woher sollen wir die Servicekräfte nehmen? Wenn ich über eine Personalvermittlung es versuche, soll ich 30 Euro die Stunde für eine ungelernte Kraft zahlen – undenkbar“, so Jäger. Dazu kommen immer neue personalintensive Corona-Kontrollen, die der Staat dem Unternehmer aufbürdet. Was bleibt den vergessenen Branchen? „Sammelklagen einreichen und die Regierung zur Zahlung verklagen“, sagt Muckenschnabel. „Es gibt keine wissenschaftliche Begründung, daß vom Gastgewerbe und Tourismus eine Gefahr ausgeht. Schauen wir, was die Wahl bringt.“ Ach ja, einige Anwälte und Künstler machten vor der Saaltür kehrt, als ihnen dämmerte, daß die AfD zu dem Diskussionsabend geladen hatte.

Corona-Auflagen und Hilfsangebote: www.dehoga-corona.de