© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Der Geist des Abendlandes
Einzigartige poetische Vorstellungs- und Gestaltungskraft: Vor 700 Jahren starb der italienische Dichter Dante Alighieri, Schöpfer der „Göttlichen Komödie“
Eberhard Straub

Bei seinen Betrachtungen zum nationalen Genius würdigte Friedrich Nietzsche den italienischen als den reichsten, der am meisten zu verschenken habe. Es ist Dante Alighieri, vor siebenhundert Jahren am 14. September 1321 in Ravenna gestorben, der dieser Charakteristik vollkommen entspricht. Seine „Göttliche Komödie“ enthält die gesamte Welt in dramatischen Bildern, wie Menschen, Gewalten und Institutionen die Zeiten verwirren, in ihnen scheitern oder zu großer Form finden, immer aber von den unerschöpflichen Möglichkeiten künden, die der Freie hat, sich für das Gute oder Böse in ihren vielfachen Abstufungen zu entscheiden. Keiner ist Opfer der Umstände, der jeweils aktuellen Strukturen und des ihnen gemäßen Zeitgeistes, sondern jeder Einzelne ist verantwortlich für das, was er will und muß darüber Rechenschaft ablegen. Die Geschichte läßt sich nicht bewältigen. Sie ist das große Welttheater, das moralischen Unterricht erteilt über die Tragödien der Menschen in der Geschichte, die dennoch wegen des gerechten und liebenden Gottes zu einem guten Ende finden und sich als Heilsgeschichte erweisen kann. Deshalb nannte Dante sein Weltgedicht eine Komödie, weil es mit einem glücklichen Ausgang schließt, wie in dieser Gattung notwendig war.

Bei Dante, über dessen Leben kaum zeitgenössische Quellen vorliegen, vereinigten sich gelehrte Kenntnisse aller Art, mit denen er verschwenderisch umging, wissenschaftlicher Scharfsinn und eine ungemein bewegliche Phantasie mit einer einzigartigen poetischen Vorstellungs- und Gestaltungskraft. Manches ließ er im geheimnisvollen Dunkel, und mit vielen Anspielungen überforderte er selbst sehr gelehrte Leser. Sein Werk veranlaßte sofort Bewunderer zu umständlichen Kommentaren, ja 1375 wurde in Florenz sogar der erste Lehrstuhl für Dantekunde errichtet, um zum besseren Verständnis der „Göttlichen Komödie“ beizutragen.

Der erste „Dante-Dozent“ war der Humanist und virtuose Erzähler Giovanni Boccaccio (1313–1375), der wegen seiner Novellensammlung „Decamerone“ längst ebenso berühmt war wie Dante. Doch offenkundige Schwierigkeiten, über die bis heute gestritten wird, standen dem Erfolg dieses Werkes gar nicht im Wege. Schon Boccaccio konnte davon berichten, daß Eselstreiber und Schmiede bei ihrer doch recht niedrigen Tätigkeit Verse von Dante deklamierten oder sangen. Solche Anekdoten mögen liebenswürdige Erfindungen gewesen sein, doch sie konnten nur ersonnen und geglaubt werden, weil schon bald nach Dantes Tod seine Commedia tatsächlich ein Volksbuch war.

Dante selbst gab in einer canzone, einem raffinierten Kunstlied, einmal Lesern den Rat, sich nicht durch Grübeln um den Genuß seiner Verse zu bringen, sondern darauf zu achten, wie schön sie sind. Dante hatte ja deswegen als erster ernste Angelegenheiten auf italienisch behandelt, um den Italienern, die in ihren Dialekten redeten und sangen, zu einer wirklichen Volkssprache zu verhelfen, die allen verständlich und bequem war und sie tatsächlich wieder zu einem ebenso stolzen wie anmutigen Volk vereinigte, wie einst in der römischen Vergangenheit. Als Patriot schmerzte es ihn, daß von der früheren Größe und Schönheit der Italia nicht mehr viel übriggeblieben war. Die Sprache hielt er für das Mittel, um die unter sich zerstrittenen Lokalpatrioten zu Italienern zu erziehen und sie dazu anzuspornen, wieder zu werden, was sie einmal waren.

Dante wurde so tatsächlich zum Vater des Vaterlandes, und andere Dichter – wie Petrarca und Boccaccio – folgten seinem Beispiel, wenn sie italienisch schrieben. Seit dem Trecento, dem 14. Jahrhundert, bildete ein sorgfältiges und im übrigen Europa unbekanntes Sprachbewußtsein die Italiener von den Alpen bis Sizilien zu einer Nation. Die Sprachnation fand aber nicht zu einer politischen Gestalt, zur Italia als Machtform.

Dante sah im Römischen Kaiser den Retter, der die heillos unter sich zerstrittenen Städte und Fürsten versöhnen könne und Italien in der Friedensordnung des Reiches wieder den ihm gebührenden ehrenvollen Platz einräumen werde. Seit dem Franken Karl dem Großen und dem Sachsen Otto dem Großen war das Kaiseramt zum Vorrecht der deutschen Könige geworden, deren Königreich das vornehmste Teilreich im Römischen Reich war. Italien gebührte darin ein besonderer Rang, weil Rom die Hauptstadt des Reiches und der Kirche war, die sich beide nach Rom nannten und deshalb veranschaulichten, daß die Welt unter der Pax Romana zur Ruhe kommen solle, wie schon einmal zur Zeit des Kaisers Augustus. Damals wurde Christus als Römer geboren, und damals verkündete der große Reichsdichter des alten Rom, Vergil, die göttliche Berufung des Reiches zur Weltherrschaft, die von Christus bestätigt wurde. Dante wird auf seinen Wegen durch die Unterwelt und während des Aufstiegs über den Läuterberg bis an die Pforten des Paradieses von Vergil begleitet. In der ewigen Seligkeit des Himmels herrscht Christus der Römer in einem ewigen Rom.

Dort wird Kaiser Heinrich VII. verklärt, der deutsche König, der 1310 aufbrach zur Krönung in der Reichsstadt Rom. Dante begrüßte ihn enthusiastisch in froher Erwartung auf den Frieden im erneuerten Reich und auf das Ende der kaiserlosen, der schrecklichen Zeit seit dem Tode Friedrichs II. 1250. Der junge Kaiser, voller bester Absichten, über den Parteien stehend, alles zu beruhigen, was in Unordnung geraten, wurde dennoch hineingezogen in die verworrenen Kämpfe und Intrigen, bei denen Florenz sich besonders hervortat, um den Kaiser daran zu hindern, in seinem Italien als Herr und Friedensstifter auftreten zu können. Dante haderte mit seiner Vaterstadt, die ihn 1302 verbannt und – für den Fall seiner Rückkehr aus dem Exil – sogar zum Tode verurteilt hatte. In seinem Zorn wegen ihrer antikaiserlichen und antiitalienischen Politik wünschte er ihr den Untergang. Eine Verständigung war nie mehr möglich. Ein paar Jahr später verfaßte er eine gelehrte und feierliche Schrift auf Latein „Über die Monarchie“, sein leidenschaftliches Bekenntnis zu Kaiser und Reich auch in deutscher Verfassung.

Es ist kein Treuebekenntnis zu den Deutschen. Ihm geht es um Rom und die großen Institutionen, Kaisertum und Papsttum. Die Päpste versuchten beharrlich Kaiser und Reich in ihre Abhängigkeit zu bringen, immer wieder dabei unterstützt von Italienern, die sich nicht den Barbaren aus dem Norden fügen wollten. Gegen diese päpstliche Anmaßung und nationale Verblendung wehrte sich Dante, der Römer. Das Reich ist viel älter als die Kirche, und heidnische Senatoren, Feldherren oder die Kaiser seit Augustus sorgten aufgrund ihrer Tugenden und praktischen Weltklugheit für Gerechtigkeit in ihrem Reich. Christus hatte das Reich anerkannt, die Apostel Petrus und Paulus kamen nach Rom, um hier die Fundamente für die Kirche Christi zu legen. Das Reich in seiner Selbständigkeit, unmittelbar von Gott eingerichtet und von nun an besonders von ihm begnadet, muß Päpste und Christen zur Ordnung rufen, die den Frieden des Reiches stören. Päpste und in ihrem Dienst eifernde Schriftgelehrte verwarfen Dantes Schrift als häretisch, die 1329 in Bologna öffentlich verbrannt, 1554 sogar in den römischen Index, in das Verzeichnis höchst gefährlicher Bücher, aufgenommen wurde. 

Deutschen hingegen kam der Traktat sehr gelegen. Kaiser Ludwig der Bayer war 1324 exkommuniziert worden, da der Papst seine Wahl nicht anerkannte und ihn noch einmal in widrigste Auseindersetzungen verstrickte, die zwei Jahrzehnte dauerten. Seine Freunde – Juristen, Theologen und Fürsten – stützten sich auf Dantes Argumente, die später immerhin die Formulierungen des Reichsgrundgesetzes, der Goldenen Bulle von 1356, beeinflußten. Sie waren als Deutsche stolz darauf, auch Römer und als solche bevorzugt zu sein unter den Völkern und Königreichen, die vom Römischen Kaiser angeführt werden und auf dessen Rat achten sollen. Ja längst gab es schon Theorien, daß die Franken – wie die alten Römer – von den Trojanern abstammten, und damit berechtigerweise das Römische Reich zu ihnen gelangte. Die Verteidiger des Reiches und Dante traten nicht – modern gesprochen – als Antiklerikale auf. Sie wollten ihm nur dessen von Gott gewollte Eigenmächtigkeit erhalten und Priester und Päpste mahnen, sich nicht in Angelegenheiten zu mischen, die sie nichts angehen. Die Kirche galt ihnen als geistliches Reich mit der besonderen Verpflichtung, irrenden Menschen dabei zu helfen, sich und ihre Seele nicht unter dem Druck der Täuschungen und Versuchungen zu verlieren.

Eintracht zu stiften, darin liegt für Dante die Aufgabe des Römischen Kaisertums. Voraussetzung dafür ist die concordia, die ungetrübte Übereinstimmung zwischen Kaiser und Papst, auf der die Pax Romana beruht. Sie verhilft jedem zum höchsten Ziel auf Erden: unter ihrem Schutz zur Freiheit zu gelangen und zur civilitas, einer liebenswürdigen Lebensart, die Römer seit Kaiser Augustus auszeichnete. In Freiheit und Lebenskultur ergänzen sich Heidentum und Christentum, die römisch-heidnischen Tugenden der Tapferkeit, der Gerechtigkeit, der Klugheit und Besonnenheit mit den religiösen Tugenden von Glaube, Liebe und Hoffnung. Das Römische Reich und die Römer besaßen schon vor dem Enstehen der Kirche eine besondere Würde.

Dantes Schrift blieb im Reich unvergessen, da es zu einer freundlichen Zusammenarbeit der beiden Römischen Institutionen nur selten kam. Dante war also in Deutschland anfänglich ein gelehrtes Ereignis, aber kein bloß akademisches, da Deutsche nun einmal in dem Römischen Reich lebten, von dessen Größe und Würde ergriffen Dante wie ein Reichsprophet sprach. Die Commedia ist denen, die kein Italienisch beherrschten – allmählich eine Umgangssprache der vornehmen Weltleute –, zuerst wohl über lateinische Übersetzungen, die bald nach Dantes Tod in Umlauf kamen, bekannt geworden. Ein wirklicher Kult mit und um Dante begann allerdings erst viel später während der beginnenden, alles einschließenden Italienbegeisterung seit dem 18. Jahrhundert, die zu der Neugier gelehrter Deutscher gehörte, auf die Stimmen der Völker zu achten in der Absicht, die vielen Literaturen in einer Weltliteratur zusammenzufassen.

Goethe sprach stets mit Hochachtung von Dante und nannte ihn gar eine Natur, in seinem einzigartigen Reichtum nur mit ihr vergleichbar. In diesem Sinne bemühten sich zahlreiche Philologen, Historiker, Schöngeister und Italien-Enthusiasten um den wachsenden Ruhm Dantes in Deutschland. Das bezeugen die fast dreihundert Versuche im Laufe von 250 Jahren, Dante auf deutsch zugänglich zu machen. Mit keinem anderen ausländischen Dichter haben Deutsche so inständig gerungen. Viele verzichteten daher auf diesen Umweg voller Stolpersteine und lernten Italienisch, um ihn zu verstehen.

Von Dante hieß es immer wieder, daß er mit Vergil, Cervantes und Goethe zu den vier Dichtern gehöre, die mit ihrer Person und ihrem Werk den Geist des Abendlandes in seiner historischen Fülle repräsentieren. Diese vier Dichter der vier europäischen Reichsvölker waren auf je ihre Weise mit dem Römischen Reich in wechselnder Gestalt und untereinander verbunden. Dante ist also nicht nur der Vater seines Vaterlandes, sondern auch einer der Väter eines wünschenswerten Europa als römischer Gemeinschaft der Vaterländer.

Zur „Göttlichen Komödie“ siehe auch die Seite 16 dieser Ausgabe

Foto: Eugène Delacroix, Die Barke des Dante, Öl auf Leinwand, 1822: Das Gemälde zeigt die Dichter Dante Alighieri (l.) und Vergil auf ihrem Weg in die Unterwelt in einem Boot, das den Fluß Styx überquert