© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Egon Friedell – jüdischer Selbsthaß und Modernekritik
Wirklichkeitsnahe Widersprüche
(wm)

Nur einige Tage nach dem „Anschluß“ Österreichs im März 1938 stürzte sich Egon Friedell, der auf dem Buchmarkt wohl erfolgreichste deutsche Kulturhistoriker des 20. Jahrhunderts, aus dem Fenster seiner Wiener Wohnung, um seiner vermeintlich bevorstehenden Verhaftung durch eine SA-Horde zu entgehen. Als klassisches „Opfer des Faschismus“ gilt Friedell, der jüdischer Herkunft war, deswegen noch lange nicht. Vor allem österreichische Historiker sind seit Jahrzehnten bemüht, Friedells „Antisemitismus“ als Ausgeburt des „jüdischen Selbsthasses“ anzuprangern. Er habe „den Protagonisten der physischen Vernichtung des Judentums Argumente geliefert“ (Johann Hinterhofer, 1990), so lautet eines der härtesten Verdammungsurteile. Dieses mildert der Wiener Germanist Roland Innerhofer jetzt schwach ab, wenn er erneut über den „Fall Friedell“ verhandelt (Sprachkunst, 2/2021). Zwar habe dieser Konvertit gerade in seiner bis heute populären „Kulturgeschichte der Neuzeit“ durch die Verknüpfung von Antisemitismus und Modernekritik „antijüdische Stereotype“ verfestigt, indem er etwa Sigmund Freuds Psychoanalyse der „Verhäßlichung und Entgötterung der Welt“ anklagte. Doch seien die für seine Weltsicht fundamentale „Idealisierung des Individuums“ sowie die Behauptung eines Primats des Geistes mit dem Determinismus und Kollektivismus der NS-Rassenlehre unvereinbar. Viele trotzdem unauflösbare Widersprüche seiner judenfeindlichen Positionen habe Friedell als Garantie für die Wirklichkeitsnähe seines Werkes betrachtet, worin seine „künstlerische Kulturgeschichtsschreibung“ der wissenschaftlichen überlegen sei. 


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