© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Dorn im Auge
Christian Dorn

Angesichts jüngster Nachrichten ist es Zeit, manche Spätlese zu empfehlen. Mit Blick auf Afghanistan, wo ein Taliban-Sprecher erklärt, man wolle diplomatische Beziehungen zu Deutschland, das sich zu sehr an Amerika ausgerichtet habe, gilt dies vor allem für den Titel „Geliebtes, dunkles Land. Menschen und Mächte in Afghanistan“ (2007, Siedler). Das Buch der beiden Spiegel-Korrespondenten Olaf Ihlau und Susanne Koelbl, laut Egon Bahr eine „Röntgenaufnahme Afghanistans“, die eine „Pflichtlektüre“ sei für alle, „die mitentscheiden, wohin der deutsche Einsatz in diesem Land führen soll“, erzählt nicht nur die aktuell ironisch anmutende und zugleich tragische Episode aus dem Jahr 1928: Als der sich für Deutschland (und die Kruppschen Kanonen) begeisternde afghanische Reformerkönig Amanullah in der Reichshauptstadt eintraf, war „halb Berlin“ auf den Beinen und widmete ihm gar ein Lied, war es doch für die international noch weitgehend geächtete Weimarer Republik der erste Besuch eines gekrönten Staatsoberhauptes nach dem Versailler Vertrag.

Die Bundesregierung erklärte sich 2001 für die Auslieferung Osama bin Ladens für nicht zuständig.

Eine echte Bombe jedoch lauert im hinteren Teil des Buches, wo beiläufig die unglaublichste – da bis heute beschwiegene – Begebenheit erzählt wird, die im geplanten Afghanistan-Untersuchungsausschuß des kommenden Bundestages hochgehen dürfte: So wurde unmittelbar nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA – vermittelt über den deutschen Arzt und Entwicklungshelfer Reinhard Erös (Kinderhilfe Afghanistan) – der deutschen Bundesregierung von einem der erfolgreichsten Mudschaheddin-Kommandeure im Kampf gegen die Sowjets die exklusive Auslieferung Osama bin Ladens angeboten mit geplanter Überstellung am Khyber-Paß, um den drohenden Krieg und die militärische Invasion abzuwenden. Doch die deutsche Bundesregierung, wie Reinhard Erös jetzt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT noch einmal bestätigte, erklärte sich schließlich – nach Tagen des Schweigens – für nicht zuständig (O-Ton Bundesinnenminister Otto Schily: „This case is too heavy for us.“). Wäre Osama bin Laden, der vor Jahrzehnten auch Dorfnachbar von Reinhard Erös war, seinerzeit festgenommen worden: Der Grund für den Kriegsbeginn in Afghanistan hätte sich in Luft aufgelöst – stattdessen entfaltete sich Wochen später am 7. Oktober der erste Bombenteppich. In dem Zusammenhang sind auch von Reinhard Erös als Spätlese „Tee mit dem Teufel“ (2002) und „Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen“ (2008) zu empfehlen, erscheint doch der „Tagesordnungspunkt Afghanistan“ zwangsläufig als „Wiedervorlage“. 

Grenzenlos dagegen die Botschaft des katholischen Bischofs Michael Wüstenberg, der im Deutschlandfunk fordert, die „Güter der Welt gerecht zu verteilen“. So wirke „der Geist Gottes“ bei den „Menschenfischern“ der Sea-Eye-Flotte. Als Spätlese hilft hier nur „Der deutsche Willkommenswahn. Eine Chronik in kommentierten Zitaten 2015– 2016“ von Werner Reichel (Frank & Frei, 2018) und „Geht der Kirche der Glaube aus?“ von Klaus-Rüdiger Mai (Evangelische Verlagsanstalt, 2018).