© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Das Leben ist grausam
Kino II: In dem Film „Stillwater“ wächst zusammen, was nicht zusammengehört. Kann das gutgehen?
Dietmar Mehrens

Matt Damon, der Held der Reißerreihe um den geheimnisvollen Spezialagenten Jason Bourne, kann auch anders. Diesmal steigt der vielseitige Mime hinab in die Untiefen des Prekariats. In „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“ von Tom McCarthy verkörpert er Bill Baker, einen klassischen Unterschichtsamerikaner, einen weißen Mann mit schlichtem Gemüt. Der Bohrarbeiter aus Stillwater/Oklahoma hat es nicht leicht: Seine Mutter ist gebrechlich, seine Frau hat sich umgebracht, und seine Tochter Allison (Abigail Breslin) sitzt seit fünf Jahren in Marseille im Gefängnis, weil sie ihre Freundin Lina getötet hat, mit der sie – welche Überraschung – eine homoerotische Liaison unterhielt. Allison hält ihren Vater eingedenk seiner früheren Alkoholprobleme für eine Katastrophe auf zwei Beinen. „Sie traut ihm nicht. Das gestaltet die Beziehung schwierig“, so der frühere Kinderstar („Little Miss Sunshine“, 2006) über die Figur. Dennoch bittet sie ihn um Hilfe, um freizukommen. Allison zufolge ist der wahre Täter nämlich ein Ghettojunge namens Akim. Bill wittert seine vielleicht letzte Chance, Allison Wiedergutmachung für Schuldiggebliebenes zu leisten.

Völlig konträre weltanschauliche Lager entdecken Verbindendes

Doch bei der Anwältin, die er in Allisons Auftrag mit der Akim-Theorie behelligt, blitzt Bill ab: Seine Tochter solle ihr Urteil lieber endlich annehmen. Ihm bleibt also nichts anderes übrig, als auf eigene Faust nachzuforschen im Marseiller Untergrund der kriminellen Clans und Halbstarkenbanden mit Migrationshintergrund. „Bill bringt es nicht übers Herz, Allison zu berichten, daß die Anwältin ihren Vorstoß einfach abgeschmettert hat. Sie ist so voller Hoffnung“, erläutert Damon das Verhalten des von ihm verkörperten Bill Baker. „Also nimmt er es auf sich, dieser neuen Spur zu folgen. Aber schnell zeigt sich, daß er komplett überfordert ist mit der Aufgabe. Er weiß nichts über Marseille und spricht auch kein Französisch.“

Hilfe bekommt der Ortsfremde von seiner Hotelbekanntschaft Virginie (Camille Cottin) und ihrer Tochter Maya (Lilou Siauvaud). Und da stille Wasser bekanntlich tief sind, entwickelt die Alleinerziehende tatsächlich Gefühle für den schweigsamen Amerikaner. Als Bill schließlich eine heiße Spur findet, gerät er in ein moralisches Dilemma: Darf er Virginie und Maya für Allisons Freiheit in Gefahr bringen?

Ganz andere, grundsätzliche Fragen peinigen seine Tochter: „Was stimmt nicht mit uns?“ Diese Worte richtet die Inhaftierte in einem ehrlichen Moment an ihren Vater. Eine Frage, die Allison stellvertretend für ihre ganze Generation stellt: eine Generation von Verlorenen, die alte Sicherheiten für flüchtige Vergnügungen und törichte Trends an den Teufel verkauft hat wie Timm Thaler sein Lachen. Ihre Vertreter rennen mit potthäßlichen Hautmalereien herum, kennen bei Drogen und Libido kein Maß und kein Gesetz mehr und erlangen als Lohn all dieser Fluchten in trügerische Welten am Ende die bittere Erkenntnis: Das Leben ist grausam, „life is brutal“, wie es Allison in der englischen Originalfassung ausdrückt. Ideallösungen kann auch ihr Vater nicht servieren. Doch an einem hält der Mann aus dem konservativen Oklahoma (63 Prozent Trump-Wähler) eisern fest: dem Gebet. Wie ein Ruf aus dem Jenseits der verlorenen Hoffnungen richtet es ihn auf.

Regisseur McCarthy ließ sich für seine Filmidee inspirieren von der Leidensgeschichte der Studentin Amanda Knox, die 2007 für den Mord an ihrer Mitbewohnerin in Italien zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. „Stillwater“ hat er dialektisch angelegt. Mit Bill und Virginie prallen buchstäblich Welten aufeinander. Bill, der potentielle Trump-Wähler, und Virginie, die Schauspielerin mit multiethnischem Boheme-Umfeld: da paßt wirklich nichts zueinander. Mehr Mesalliance geht nicht. Und natürlich knallt es auch mal kräftig. Das Überraschende aber: Abgründe werden unsichtbar, wenn man sich auf Verbindendes konzentriert. Wie hier zwei Vertreter völlig konträrer weltanschaulicher Lager das Menschliche aneinander sehen und schätzen lernen, das hat Tom McCarthy in seiner optisch eher spröden Inszenierung fein herausgearbeitet. Er ist damit gedanklich viel weiter als die Demagogen der kritischen Rassentheorie oder des Anti-Trump-/Anti-AfD-Lagers, die viel von Dialog, von Verständnis und Toleranz reden, in der Praxis aber Gräben lieber vertiefen als überwinden. 

Kinostart ist am 9. September 2021