© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Aufspüren, löschen, sperren
Zunehmende Automatisierung: Die Zensur der Internet-Plattformen erscheint immer grotesker
Gil Barkei

Die Achgut-Autorin und Weltwoche-Kolumnistin Anabel Schunke wurde Ende Juni dauerhaft von Instagram verbannt. Auch Twitter löschte damals ihr Profil und stellte es erst Ende August wieder her. Allerdings nur, weil Schunke nach Aufforderung zwei Tweets herausgenommen hatte – Erziehung zur Selbstzensur mit der Drohkulisse einer anhaltenden Sanktion. In dem ersten Beitrag hatte sie nach der Vergewaltigung und Ermordung der 13jährigen Leonie in Wien geschrieben: „Auch in Österreich wird wieder getötet. Und immer wieder Afghanen. Das arme Mädchen. Ruhe in Frieden.“ In dem zweiten hatte sie beklagt, „daß so getan wird, als sei das größte Problem in Deutschland für Frauen eine nicht gegenderte Sprache, während ich tagtäglich mit Frauen spreche, die sich nicht mehr ins Freibad und an andere Orte trauen, weil sie so sehr (von Migranten) belästigt werden.“ Für Twitter Verstöße gegen die „Regeln über Haß-Inhalte“. 

Ein anderer Eingriff in die Meinungsfreiheit traf den konservativen Publizisten Klaus Kelle. Vergangenen Monat machte Facebook die Seite seiner Online-Zeitung The GermanZ wegen „Verstoßes gegen die Gemeinschaftsstandards“ für drei Tage dicht. 72 Stunden keine Artikel verbreiten, keine Interaktion mit Followern und Lesern: ein schwerer Schlag und eine Wettbewerbsverzerrung für ein Medium, das tagesaktuelle Nachrichten bietet; zumal nach eigenen Angaben etwa die Hälfte der Zugriffe auf the-germanz.de über Facebook und Twitter kommen.

Filter-Systeme mit künstlicher Intelligenz

Aber damit nicht genug: zusätzlich waren Kelles privates Profil und seine Gruppen „Demokratie und Rechtsstaat verteidigen“ und „6. Vollversammlung der wahren Schwarmintelligenz“ lahmgelegt. Und das, obwohl der Bundesgerichtshof erst kürzlich geurteilt hatte, daß Facebook seine Nutzer vor einer beabsichtigten Sperrung anhören muß. Zuvor hatte Facebook eine Unterlassungsverfügung vom Landgericht Karlsruhe verpaßt bekommen. Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel hatte für The GermanZ erreicht, daß dem US-Netzwerk untersagt wird, Einblendungen mit dem Text „Diese Seite teilt möglicherweise Inhalte, die gegen unsere Gemeinschaftsstandards verstoßen“ zu schalten.

Auch vor dem Landgericht München ereilte Facebook eine Schlappe gegen Steinhöfel. Die Richter untersagten die Löschung eines Postings des Journalisten und Autors Alexander Wendt. Dieser hatte lediglich einen Beitrag des Tübinger Bürgermeisters Boris Palmer geteilt. Palmer hatte auf einen Kommentar der Stuttgarter Zeitung reagiert, der ihn wegen der Aussage angriff, er wolle seine Kinder nicht impfen lassen. Obwohl der Text des Grünen-Politikers insgesamt über 150 Mal geteilt wurde und Wendt ihm keine eigenen Formulierungen hinzugefügt hatte, zensierte Facebook seinen Post wegen „Fehlinformationen über Covid-19“.

Insgesamt steigt der Druck auf unangepaßte Stimmen. Mitte August löschte Youtube den Hauptkanal von NuoViso.TV mit über 240.000 Abonnenten. Und Facebook zensierte ein Posting der „Achse des Guten“ wegen folgendem Heinrich-Heine-Zitat: „Der Deutsche gleicht dem Sklaven, der seinem Herrn gehorcht ohne Fessel, ohne Peitsche, durch das bloße Wort, ja durch einen Blick.“ Das Berliner Landgericht erließ auf Antrag der Initiative „Meinungsfreiheit im Netz“ zwar eine einstweilige Verfügung gegen den Eingriff, aber der Vorgang sowie die anderen beispielhaften Fälle zeigen, welche skurrilen Formen die Sperr- und 

Löschpraktiken der großen Internet-Firmen angenommen haben. 

Die Big-Tech-Firmen setzen dabei neben vermeintlichen Faktencheckern wie Correctiv (JF 11/21) und Meldungen anderer Nutzer zunehmend auf künstliche Intelligenz (KI). Zur Fußballeuropameisterschaft entwickelte zum Beispiel Twitter eigens Modelle, um „rassistische und mißbräuchliche Tweets“ schnell „zu identifizieren und zu entfernen“. So hätten nach den „entsetzlichen Beschimpfungen gegen Mitglieder der englischen Mannschaft in der Nacht des Endspiels“ die eingesetzten automatisierten Werkzeuge „sofort gegriffen“ und in den 24 Stunden nach dem Finale 1.622 Beiträge gelöscht. Insgesamt seien 1.921 einschlägige Tweets beseitigt worden, lediglich 126 davon aufgrund individueller Meldungen. Selbst die Faktencheck-Programme werden mit KI ergänzt und ausgebaut. Für den deutschsprachigen Raum kooperiert Facebook bei seinem WhatsApp-Dienst neuerdings mit der Nachrichtenagentur AFP. Nutzer können dabei Fake-News-Anfragen an eine Nummer senden, die daraufhin von einem Chat-Bot mit AFP-Infos beantwortet werden.

Grundlage der Maßnahmen ist in Deutschland weiterhin das erst kürzlich verschärfte (JF 28/21) Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Laut dem vorgeschriebenen aktuellen halbjährigen Transparenzbericht wurden Facebook zwischen dem 1. Januar und 30. Juni 2021 insgesamt 67.028 Inhalte in 77.671 NetzDG-Beschwerden gemeldet (Doppelmeldungen möglich). 11.699 Inhalte wurden daraufhin von dem Netzwerk gelöscht oder gesperrt. Hohe Zahlen, wenn man bedenkt, daß derzeit lediglich 129 Personen für die Bearbeitung der NetzDG-Beschwerden zuständig sind. Allerdings betont Facebook mit Blick auf die weltweite Praxis: „Mittlerweile erkennen wir fast 97 Prozent der Haßkommentare, die wir löschen, noch bevor Nutzer*innen sie melden – in 2017 waren es lediglich 24 Prozent.“ Der Großteil der digitalen Cancel Culture läuft also präventiv und algorithmusgestützt ab.

Inzwischen geraten auch der Zensur entgangene Inhalte ins Visier der Plattform, wenn sie nicht ins auserkorene Marketingkonzept passen. Laut New York Times hat Facebook den Bericht über die meistgesehenen Inhalte im ersten Jahresquartal nicht veröffentlicht, weil dort ein Artikel über einen Arzt, der zwei Wochen nach seiner Corona-Impfung gestorben ist, ganz oben gelistet wurde. Das US-Unternehmen habe ein PR-Desaster gefürchtet.

Doch wie beim erwähnten Heine-Zitat oder dem Fall von Alexander Wendt erleiden die Tech-Riesen immer wieder empfindliche juristische Rückschläge. So verpaßte das Landgericht Köln Youtube eine einstweilige Verfügung, weil das Videoportal den Coronamaßnahmen-kritischen Youtuber Gunnar Kaiser vorwarnungslos wegen nicht genau genannter Richtlinienverstöße aus dem Monetarisierungs-Partnerprogramm warf. Das hat Konsequenzen mit Präzedenzfallcharakter: Die Google-Tochter muß nicht nur die Demonetarisierung aufheben, sondern muß auch die angeblichen Verstöße Kaisers konkret darlegen.

Google klagt gegen Verpflichtungen des NetzDG

Youtube selbst scheint derweil zumindest teilweise genug von den deutschen Zensurgesetzen zu haben, welche die Unternehmen mit erweiterten hohen Bußgelddrohungen unter Zugzwang setzen. Ende Juli hat die europäische Google-Zentrale in Irland Feststellungsklage gegen das NetzDG vor dem Verwaltungsgericht Köln eingereicht und will damit „die betreffenden Verpflichtungen des Gesetzespakets“ prüfen lassen. Speziell geht es dabei um die Aufforderung, bei potentiell strafrechtlich relevanten Fällen automatisch die jeweiligen Nutzerdaten an das Bundeskriminalamt weiterzuleiten. „Für uns ist der Schutz der Daten unserer Nutzer:innen ein zentrales Anliegen“, schreibt die Leiterin Government Affairs und Public Policy für die deutschsprachigen Länder sowie Zentral- und Osteuropa, Sabine Frank, auf dem Konzernblog.

Daß mit einem möglichen Rechtsspruch gegen die neu hinzugefügte Datenweitergabe die schon vorher praktizierte proaktive Löschung unliebsamer Inhalte beendet wird, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Schließlich stellt sich Youtube nicht gegen das Aussieben im Internet generell. Im Gegenteil: Frank bekräftigte, daß man sich dem Ziel, gegen „Haß und Hetze“ vorzugehen, verpflichtet fühle. 

Seit Februar 2020 hat Youtube eigenen Angaben zufolge allein eine Million Videos mit „gefährlichen Falschinformationen“ zu Corona gelöscht. Pro Quartal entfernt die US-Firma insgesamt zehn Millionen Clips, die angeblich gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen verstoßen.

Foto: Gegen Haß und Hetze: Youtube hat eine Million Videos mit „gefährlichen Falschinformationen“ gelöscht