© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Afghanistan und andere ungebetene Einmischungen
Ein großes Unverständnis
Erich Weede

Ungefähr zwanzig Jahre lang hatten amerikanische und verbündete westliche Truppen versucht, ein besseres Afghanistan zu schaffen. Der Einsatz dauerte lange, war teuer und vor allem für die Afghanen blutig. Nach dem Abzug der amerikanischen Truppen ist die alte, prowestliche Regierung mit atemberaubender Geschwindigkeit zusammengebrochen. Das Scheitern in Afghanistan sollte eigentlich nicht überraschen. Vor den Amerikanern sind dort in der Endphase des Kalten Krieges auch die Sowjets gescheitert. Als der indische Subkontinent noch britische Kolonie war, war die Grenze zu Afghanistan immer die unruhigste und am schwersten zu sichernde Grenze. Aber nicht nur der oberflächliche Blick in die afghanische Geschichte hätte die Interventionsneigung der USA und des Westens Anfang des 21. Jahrhunderts dämpfen sollen, sondern auch die Resultate einer langen Serie von Militäreinsätzen anderswo in Entwicklungsländern.

In den 1950er Jahren ist es den USA und ihren Verbündeten nach jahrelangen blutigen Kämpfen noch gelungen, eine kommunistische Machtübernahme im Süden Koreas zu verhindern. Bis heute sind amerikanische Streitkräfte im Süden Koreas stationiert, um einen erneuten Angriff aus dem Norden abzuschrecken. Obwohl es in Südkorea nach Kriegsende mit dem Wiederaufbau nicht ganz so schnell wie in Westdeutschland oder Japan anfing, ist Südkorea inzwischen ein wirtschaftlich außerordentlich erfolgreiches Land und sogar noch eine Demokratie geworden. Südkorea ist die letzte nennenswerte Erfolgsgeschichte amerikanischer oder westlicher Einmischung in ein großes armes Land.

Der nächste größere amerikanische Militäreinsatz betraf Indochina, also Vietnam, Laos und Kambodscha in den sechziger Jahren bis Mitte der Siebziger. Vor den Amerikanern war dort die französische Kolonialmacht schon gescheitert, weshalb Nordvietnam zu Beginn des amerikanischen Einsatzes schon kommunistisch regiert wurde. Wieder gilt: Der Einsatz dauerte viele Jahre, war teuer und blutig, mehr noch für die Zielländer als für die Amerikaner. Seit Ende der siebziger Jahre regieren überall in Indochina die Kommunisten. Das hätte man preiswerter und unblutiger auch durch Nichteinmischung erreicht. Inzwischen kann man zumindest die vietnamesischen Kommunisten fast schon als stillschweigende Alliierte der Amerikaner bei der Eindämmung des chinesischen Einflusses in Ostasien betrachten.

In den neunziger Jahren, also nach dem Ende des Kalten Krieges, führten die Amerikaner Krieg gegen den Irak und befreiten Kuwait von irakischer Besatzung. Rein militärisch war das eine Erfolgsgeschichte. Politisch muß man das anders sehen, denn ungefähr ein Jahrzehnt später hielten die Amerikaner einen zweiten Krieg gegen Saddam Hussein und den Irak für nötig. Die Ausschaltung Saddam Husseins und seiner Streitkräfte war für die USA recht unblutig und schnell. Die am Anfang als Kriegsgrund geltenden Massenvernichtungswaffen gab es im Irak nicht.

Die später erhoffte Demokratisierung des Landes kann man kaum als gelungen bezeichnen. Die Wirtschaft liegt danieder. Die Iraker sind verarmt. Die politische Lage ist instabil, weil Schiiten, Sunniten und Kurden nicht gut miteinander auskommen. Profitiert von den amerikanischen Kriegen gegen den Irak hat eigentlich nur das theokratisch-schiitische Regime des benachbarten Iran, das jetzt beträchtlichen Einfluß auf die schiitische Mehrheit im Irak ausübt. Im Irak haben die USA einen Gegner ausgeschaltet und dabei den Einfluß eines anderen Gegners erhöht.

Im 21. Jahrhundert haben die Amerikaner sich zwar am Krieg in Syrien nur marginal beteiligt und auch in Libyen nur „von hinten“ geführt, was die amerikanischen Verluste und sogar Kosten niedrig gehalten hat. Zwar haben die Amerikaner, vor allem ihre Luftwaffe, zum Sieg über den „Islamischen Staat“ beigetragen, aber man kann darüber streiten, ob dessen zeitweilige Existenz nicht auch eine Spätfolge des zweiten amerikanischen Irak-Krieges gewesen ist. Afghanistan reiht sich ein in eine Reihe ameri­kanischer und alliierter Militäreinsätze in der islamischen Welt, die nur Tod und Verderben und politische Instabilität statt Wachstum und Wohlstand oder gar Demokratie gebracht haben.

Auf die Frage, warum das so ist, hat der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington vor 25 Jahren in einem Aufsatz und einem Buch die Antwort gegeben. Man muß seinen „Kampf der Kulturen“ allerdings sorgfältig lesen. Dann findet man den Hinweis, daß Menschen beim Versuch, andere – deren Verhalten, Institutionen und Politik – zu verstehen, immer dann größte Schwierigkeiten haben, wenn dabei Kultur- und Zivilisationsgrenzen überschritten werden müssen. Wir im Westen verstehen den islamischen Kulturkreis und die Menschen dort zu schlecht, um hoffen zu dürfen, daß unsere Einmischung die von uns erhofften Resultate hat. Nichteinmischung vermeidet Fehlentscheidungen. Nichtfunktionierende Einmischung öffnet nur die Migrationsschleusen. Die Amerikaner haben dabei das Glück, für flüchtende Afghanen, Syrer oder Iraker schlechter als Europa erreichbar zu sein. Denn das von Huntington diagnostizierte Unverständnis zwischen den Kulturen kann nur ein Integrationshindernis bei Zuwanderung von Muslimen in den Westen sein.

Ein anderer Grund für die Vergeblichkeit westlicher Interventionen in armen Ländern sind populäre, aber wohl falsche Vorstellungen über Bürgerkriege. Gern geht man davon aus, daß es dabei darum geht, Herz und Hirn der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Dann würden sich in der Regel diejenigen bei Bürgerkriegen durchsetzen, deren Vorstellungen denen der Bevölkerung zumindest relativ nahe kommen. Dann könnte man aus der Niederlage der westlich angehauchten Regierung in Afghanistan gegen die Taliban schließen, daß die Masse der Afghanen lieber unter den Taliban als unter ihrer ehemaligen Regierung und westlichem Einfluß leben will.

Der amerikanische Ökonom Gordon Tullock hat eine ganz andere Theorie vorgeschlagen. Die kann man am Beispiel der Kosten-Nutzen-Kalküle einfacher Dorf­bewohner auf dem Lande erklären, die über keine nennenswerten Ressourcen verfügen und einzeln keinen Einfluß auf den Ausgang des Bürgerkriegs haben: Wer mit seiner Familie nur überleben will, muß vor allem vermeiden, den Eindruck zu erwecken, man sympathisiere mit der weniger grausamen Seite. Das könnte die zwar korrupte und ineffiziente Regierung sein, die aber auf die öffentliche Meinung im verbündeten Westen Rücksicht nehmen muß und deshalb manche Grausamkeiten vermeidet. Gerade weil man von der grausameren Seite das Schlimmste zu erwarten hat, muß der einfache Dorfbewohner so tun, als ob er zumindest nicht gegen sie sei. Da nützt es, auch mal mit Informationen über Regierungstruppen, mit Nahrung oder Hilfsdiensten den Aufständischen, in Afghanistan also den Taliban, zu helfen, damit man sich nicht deren Rache aussetzt.

Der Überlebenswunsch der einfachen Leute verhilft deshalb denen zum Sieg, die diese am meisten fürchten. Daß die Afghanen die Taliban-Herrschaft hinnehmen, bedeutet nur, daß sie lieber islamistisch regiert sein wollen als sterben. Noch lieber werden viele Afghanen aber unter ihren ehemaligen Verbündeten im Westen leben wollen. Nach einem verlorenen Krieg kann man sich auf eine Fluchtwelle vorbereiten.

Falls man Tullocks Theorie folgt, hat das politische Implikationen. Durch die Einmischung in einen Bürgerkrieg beziehungsweise in einen Konflikt, wo beide Seiten Furcht und Schrecken verbreiten und Zurückhaltung bei Grausamkeiten die Erfolgsaussichten verringert, hat der Westen nur die Wahl, entweder die eigenen Verbündeten zu Grausamkeiten anzustacheln oder zumindest deren Grausamkeiten zu dulden und damit natürlich die eigenen humanen Werte zu verraten, oder aber bereit zu sein, eine Niederlage der eigenen Seite beziehungsweise der Verbündeten vor Ort hinzunehmen. Nur durch Nichteinmischung hätte man in Afghanistan und überall sonst in der islamischen Welt diesem Dilemma entkommen können.






Prof. em. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über geopolitische Dilemmata Rußlands und des Westens („Für Weltmacht keine Basis“, JF 22/21).

Foto: Ein Bauer auf seinem Feld in der afghanischen Provinz Badakhshan und der Schatten eines Hubschraubers: Ein Grund für die Vergeblichkeit westlicher Interventionen in armen Ländern sind populäre, aber falsche Vorstellungen über Bürgerkriege