© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Suche nach der Wahrheit
Die Aufbereitung der Anschläge vom 11. September 2001 im Dunstkreis von Verheimlichungen und Verschwörungstheorien
Michael Dienstbier

Die Bedeutung historischer Ereignisse erschließt sich zumeist erst im nachhinein. Bei den Anschlägen vom 11. September 2001 (9/11) war das anders. Als sich das zweite Flugzeug live vor den Augen der Weltöffentlichkeit in den Südturm des World Trade Center bohrte, wurde jedem sofort bewußt, Augenzeuge eines Epochenwechsels zu sein. Der eine halbe Stunde später erfolgte Angriff auf das Pentagon sowie der Absturz einer Maschine auf einem Feld in der Nähe von Shanksville, Pennsylvania – deren Ziel wohl das Kapitol in Washington war – komplettierten das Bild der umfassendsten koordinierten Attacke auf die USA seit Pearl Harbor. 

Daß die ins Mark getroffene, gedemütigte einzig verbliebene Weltmacht mit militärischen Mitteln reagieren würde, stand außer Frage. Ebenso, daß die seit dem Ende des Kalten Krieges 1989/91 geltende globale Weltordnung sich neu sortieren würde. All dies hat sich bestätigt. Viele Krisenherde der heutigen Zeit haben entweder ihren Ursprung in 9/11 oder wurden durch dieses Ereignis massiv angefacht. Die aktuellen Geschehnisse in Afghanistan sind nur eines von vielen Beispielen. 

Doch auch auf einer anderen Ebene wirkt der 11. September bis heute nach. Viele Fragen, was an diesem Tag genau passiert ist, sind bis heute ungeklärt, was viel Spielraum für alternative Erklärungsmodelle läßt. Noch bevor es eine offizielle „Wahrheit“ überhaupt gab, preschten einige vor. So spekulierte der amerikanische Radiomoderator Alex Jones bereits am Tag des Anschlags über eine kontrollierte Sprengung der beiden Türme des World Trade Center. Die bis heute offiziell geltende Version der Ereignisse ist Ergebnis der „National Commission on Terrorist Attacks Upon the United States“ – kurz: 9/11-Kommission, die nach knapp zweijähriger Arbeit am 21. August 2004 ihren abschließenden Bericht vorlegte.

Die Kommission – ein Senats-Ausschuß bestehend aus fünf Republikanern und fünf Demokraten – kam zu dem Ergebnis, daß die von insgesamt 19 Islamisten verübten Anschläge durch ein Komplettversagen der Flugaufsichtsbehörden, mangelhafte Kommunikation zwischen den Sicherheitsdiensten und Mißachtung zahlreicher Warnungen durch die Regierung ermöglicht worden seien. Politisch Verantwortliche wurden allerdings keine direkt genannt, was wohl in der paritätischen Zusammensetzung des Gremiums begründet liegt. So führen die Autoren im achten der insgesamt zwölf Kapitel des Berichtes die PDBs (President’s Daily Brief) zum Thema Al-Quaida auf, die dem Präsidenten täglich von der CIA vorgelegt werden. Hier fällt auf, daß die Warnungen im Laufe des Jahres 2001 häufiger und konkreter wurden. Am 17. Mai hieß es noch eher abstrakt, es seien „Operationen“ geplant, am 22. Juni war schon von „Selbstmordanschlägen“ die Rede, und am 6. August wurde ganz konkret vor einem von Osama bin Laden in Auftrag gegebenen Angriff mittels einer Flugzeugentführung gewarnt.

Trotz allem sind Zweifel an der offiziellen Version angebracht

Der Bericht ging nicht direkt auf die zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreich vorhandenen alternativen Erklärungsmodelle ein, versuchte aber, die am weitesten verbreiteten – vor allem die Sprengungstheorie – durch die Aussagen von Statikern und Architekten zu widerlegen. Vertreter dieser These berufen sich besonders auf den Einsturz des früheren World Trade Center 7 (WTC 7) am späten Nachmittag des 11. September. Daß es von keinem Flugzeug getroffen und erst um die sieben Stunden nach den Türmen einstürzte, sei nur durch eine vorbereitete Sprengung zu erklären. Allerdings hat der Abschlußbericht 2008 darauf hingeweisen, daß WTC 7 infolge der von Trümmerteilen des Nordturm ausgelösten Feuer, die sich massiv auf die Statik des Gebäudes auswirkten, eingestürzt sei. Die stundenlangen, auf vielen Stockwerken wütenden Brände konnten durch die Beschädigung der Wasserzufuhr für die Sprinkleranlage nicht gebändigt werden.

Möchte man sich heute einen Überblick über die mit 9/11 in Zusammenhang stehenden Verschwörungstheorien verschaffen, eröffnet sich einem ein Mikrokosmos eigener Art. Grob wird hier zwischen MIHOP- und LIHOP-Theorien unterschieden, was für „Make it happen on purpose“ und „Let it happen on purpose“ steht. Die Bush-Regierung habe also die Anschläge entweder selbst in Auftrag gegeben oder aber willentlich geschehen lassen, um ihre neokonservative Agenda von „Nation-Building“ und Demokratie-Export in die Tat umsetzen zu können. 

Viele dieser Theorien erfreuen sich bis heute großer Beliebtheit, da sie auf Behauptungen basieren, die schwer falsifizierbar sind und einer gewissen inneren Logik folgen. Die Argumente gegen ein großangelegtes Komplott bleiben jedoch überwältigend. Eine erfolgreiche Verschwörung muß den Kreis der Mitwisser beschränken, um zum Erfolg führen zu können. Zur Sprengung des World Trade Center hätte es einer Vielzahl Beteiligter bedurft, die die Gebäude in monatelanger Arbeit mit Sprengsätzen versehen, ohne daß das jemand mitbekommt und ohne daß einer der Eingeweihten sich verrät. Nach menschlichem Ermessen ist das auszuschließen. Und warum sollte jemand den logistischen Aufwand betreiben, vier Flugzeuge zu entführen, um eine Sprengung zu vertuschen? Um einen Krieg gegen Afghanistan oder den Irak zu rechtfertigen, hätte einer sinisteren Regierung auch der Einschlag einer Passagiermaschine mit vielen Toten genügt. Auch zur Vertuschung der vielen Hinweise auf einen bevorstehenden Angriff gemäß der LIHOP-Theorie hätte es Hunderter Beteiligter bedurft. Hier gilt das Sparsamkeitsprinzip nach Ockhams Rasiermesser: Die einfachste Erklärung ist zumeist auch die richtige und die spricht eindeutig gegen eine Verschwörung aus dem Inneren des Staatsapparats.

Und doch sind Zweifel an der offiziellen Version angebracht, Zweifel, zu deren Aufklärung die vielen abwegigen Theorien wenig bis nichts beitragen können. Vielmehr werden diese von den Gralshütern der offiziellen „Wahrheit“ als Machtinstrument benutzt, um jede noch so berechtigte Frage, jeden noch so berechtigten Hinweis auf Logiklücken als „Verschwörungsgeschwurbel“ zu diskreditieren. Es ist das große Verdienst der Investigativjournalisten und Ehepartner Anthony Summers und Robbyn Swan, die Entstehungsgeschichte und Nachwirkung des Berichtes der 9/11-Kommission nachgezeichnet zu haben, die sie 2011 in ihrem Buch „The Eleventh Day: The Ultimate Account of 9/11“ veröffentlichten. Dabei betonen sie unter anderem die destruktive Rolle des Pentagons gerade im Zusammenhang mit dem Angriff auf dessen Hauptzentrale nahe Washington, bei dem die Kommission auffallend oberflächlich agiert habe. So sei zahlreichen Zeugenaussagen nicht nachgegangen worden, die zu Protokoll gaben, das Pentagon habe massenhaft relevantes Material vernichtet und die Aussagen wichtiger Zeugen vor dem Senat verhindert. Des weiteren seien die Aussagen der Vertreter des Pentagons, die schließlich vor dem Ausschuß erschienen, so fehlerhaft gewesen, daß es im nachhinein ernsthafte Überlegungen gegeben habe, diese wegen Behinderung der Justiz anzuklagen. 

Bis heute hält sich das Gerücht, es sei kein Flugzeug, sondern eine Rakete gewesen, die das Pentagon getroffen habe. Es gibt in der Tat keine ikonisch gewordenen Bilder des Einschlages einer Passagiermaschine in das Gebäude, wie es in New York der Fall gewesen ist. Auch sind auf den kurz nach dem Anschlag entstandenen Bildern keine Flugzeugteile zu sehen. Wie wahrscheinlich ist es, daß keine Straßenkamera, kein Tourist oder Einheimischer ein Foto eines zivilen Flugzeuges geschossen hat, welches nahe der Hauptstadt flach über den Boden hinwegrast? Smartphones gab es zwar vor 20 Jahren erst wenige, aber dennoch erscheint diese völlige Abwesenheit von Bildmaterial – mit Ausnahme einer Explosion, aufgenommen von einer Überwachungskamera, auf der aber kein Flugzeug zu erkennen ist – verdächtig. Ockhams Rasiermesser spricht hier nicht unbedingt für ein Anschlagsszenario wie jenes auf das World Trade Center in New York, aber eben auch nicht automatisch für ein umfassendes Verschwörungsszenario. Daß das Verteidigungsministerium der größten Militärmacht der Welt jede Menge zu verbergen hat, ist wenig verwunderlich. Das erklärt zumindest in Teilen das destruktive Verhalten dieser Behörde fern jeder Verschwörungsnarrative.

Verschwörungstheorien entsprechen dem menschlichen Bedürfnis nach Struktur und Sinn in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt sowie dem zunehmenden Unwillen, Kontingenzen und das Ausbleiben letztgültiger Antworten zu akzeptieren. Wo etwas geschieht, braucht es einen Verantwortlichen. Ist dieser nicht zu erkennen, wird automatisch eine geheim aus dem Hintergrund agierende Gruppe mit einem klar zu erkennenden Masterplan vermutet. Seien es „Die Protokolle der Weisen von Zion“ über eine jüdische Weltverschwörung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Kennedy-Ermordung durch wahlweise Militärs, Geheimdienste, die Kubaner oder die Mafia 1963 oder die im Filmstudio entstandene Mondlandung der Amerikaner 1969 – sämtliche Verschwörungstheorien orientieren sich an diesem Grundbedürfnis.

Die „Truther“-Szene als erste verschworene Internetgemeinschaft

Als „Truther“ – Wahrheitssucher – bezeichnet sich die Szene auf den Spuren der angeblich wahren Hintergründe von 9/11 selbst. Aus heutiger Sicht erkennen wir hier den Ursprung einer neuen Quantität und Qualität verschwörungstheoretischer Kommunikation. Die „Truther“ bildeten eine der ersten global agierenden Gemeinschaften im damals noch blutjungen Internet. Hier fand man gegenseitige Inspiration und Bestätigung. QAnon, die wirkmächtigste Verschwörungstheorie unserer Zeit, ist ohne die Vorarbeit der „truther“ nicht zu denken. Bei Q handelt es sich um einen angeblichen Informanten aus dem Inneren des staatlichen US-amerikanischen Verwaltungsapparats, der seit 2017 regelmäßig streng geheime Informationen auf den entsprechenden Plattformen zur Verfügung stellt. Hierbei handelt es sich um ein reines Internetphänomen, ein externes Ereignis wie 9/11 war gar nicht mehr notwendig.

Mittlerweile dient die Vokabel „Verschwörungstheorie“ gerade in Deutschland als Disziplinierungsinstrument eines zunehmend konformistischen und eingeschüchterten Volkes. Wer der polit-medialen Einheitsmeinung widerspricht, wird schnell dementsprechend markiert. Gerade zu Beginn der sogenannten Corona-Pandemie ließ sich beobachten, wie innerhalb von Wochen aus einer angeblichen Verschwörungstheorie eine wissenschaftsbasierte, alternativlose Wahrheit wurde, die mit repressiven Maßnahmen des Staates erbarmungslos in das Privatleben der Bürger eingriff. Wer kritisches Denken dergestalt delegitimiert, öffnet einem neuen Totalitarismus Tür und Tor. Hier liegt heute die wahre Gefahr hinter dem Phänomen „Verschwörungstheorie“ und nicht in den teilweise abstrusen geistigen Auswüchsen der jeweiligen Internet-Gemeinschaften.

Foto: Freiheitsstatue vor dem Rauch der nach dem Attentat zusammen-gestürzten Zwillingstürme des World Trade Center in New York am 11. September 2001: Die einfachste Erklärung ist zumeist auch die richtige