© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Das Erbe des „Löwen aus Mitternacht“
300 Jahre Friede von Nystad: Ein Börsenkrach beendet 1721 den „Schwedischen Erbfolgekrieg“ und sortiert Nordosteuropa neu
Lothar Höbelt

Schweden hatte unter König Gustav Adolf, dem „Löwen aus Mitternacht“, während des Dreißigjährigen Krieges eine Großmachtposition erobert. Diese Stellung beruhte auf einer erfolgsverwöhnten Armee, die mächtig war, solange sie auf Kosten der Feinde irgendwo in Deutschland oder Polen aus dem Lande lebte, die Schweden aber in Friedenszeiten nie aus eigenen Kräften erhalten konnte. War diese Armee einmal abgedankt, war Schweden sehr verletzlich. Denn es war von eifersüchtigen Feinden umgeben, die ihm die Herrschaft über die Ostsee neideten. Hinter jeder der Flußmündungen, die Schweden an sich gebracht hatte, lauerte ein potentieller Gegner: von Dänemark und den Welfen über Preußen und Polen bis Rußland. 

So fand sich 1700 eine Allianz gegen den jungen, erst 18jährigen König Karl XII. zusammen. Kaum ein Monarch hat dem Typus des „Soldatenkönigs“ besser entsprochen: Karl XII. schlug im Handumdrehen die Dänen und die Russen und verbiß sich dann in das Ringen gegen August den Starken, den er aus Polen vertrieb. Die beiden Kontrahenten bildeten fürwahr ein Kontrastprogramm. Der asketische schwedische Sturkopf und der lebenslustige Schlawiner mit seinen angeblich 354 Kindern. Augusts Privatleben sorgt immer noch für Unterhaltung; weniger amüsiert waren seine gekrönten Kollegen darüber, daß er auch in der Außenpolitik immer mehrere Beziehungen gleichzeitig unterhielt.

Schweden war nach der Schlacht von Poltawa in der Defensive 

Doch sobald Karl XII. nach August jetzt auch Peter den Großen bis ins seine letzten Schlupfwinkel verfolgen wollte, kam er vom Wege ab und wurde am 8. Juli 1709 bei Poltawa, tief in der Ukraine östlich des Dnepr, geschlagen. Die schwedische Armee mußte kapitulieren; der König floh in die Türkei und kehrte erst 1715 auf einem abenteuerlichen Ritt quer durch Europa in die Heimat zurück, nach Stralsund, dem letzten Stützpunkt, der Schweden in Deutschland noch geblieben war. Das Baltikum war inzwischen längst verlorengegangen: Peter der Große hatte – auf schwedischem Gebiet – schon 1703 Petersburg gegründet, 1710 Estland und Livland samt ihrer Handelsstädte Riga und Reval, 1713 Finnland erobert. Damit war die schwedische Großmachtposition im Norden an Rußland übergegangen.

Jetzt schalteten sich nicht bloß Dänemark und Sachsen-Polen wieder in den Krieg ein, auch Preußen und Hannoveraner warfen begehrliche Blicke auf die schwedischen Besitzungen in Deutschland. Friedrich I. hatte sich gerade erst in Königsberg zum König in Preußen krönen lassen, der Hannoveraner hatte ein Königreich geerbt: England. Georg I. hatte nicht übel Lust, die Ressourcen Englands zur Arrondierung seiner deutschen Stammlande einzusetzen. Doch die Sieger gerieten sich in die Haare, bevor der Bär noch ganz zur Strecke gebracht war. Den Briten war der Zar ein wenig suspekt. Petersburg und Reval waren ihm wohl nicht mehr zu nehmen, aber Riga wollte man ihm nicht gönnen – und Georg ihnen schon gar nicht Wismar und Rostock. 

Wieso Wismar und Rostock? Der Zar hatte seine Nichte mit dem Herzog von Karl Leopold von Mecklenburg verheiratet und eine Armee von 30.000 Mann dort einquartiert. Der Herzog lag mit Gott und der Welt im Krieg, mit seinen Nachbarn und mit seinen Ständen. Der Anführer des unzufriedenen Adels aber war ein Herr von Bernstorff, mit Gütern diesseits und jenseits der Elbe, deshalb zugleich auch erster Minister Georgs I. in seiner Rolle als Kurfürst von Hannover. Bernstorff entwickelte den Plan, den Zaren doch am besten einfach entführen zu lassen. Peter dem Großen wiederum redeten seine Berater zu, doch die Stuarts zu unterstützen und Georg aus Großbritannien zu vertreiben. Beide Rivalen waren nicht abgeneigt, mit Karl XII. einen Sonderfrieden zu schließen und ihn auf ihre Seite zu ziehen. 

Es waren zwei verkrachte Jenaer Studenten, Georg Heinrich von Görtz und Heinrich Ostermann, die für Schweden und Rußland einen Sommer lang auf den Åland-Inseln verhandelten. Doch aus dem Seitenwechsel wurde nichts. Vorläufig zumindest: Denn Karl XII. blieb so stur wie immer. Bis er 1718 bei der Belagerung der norwegischen Grenzfestung Fredrickshall fiel – auch da läßt sich wie beim Kennedy-Mord lange über Reichweiten und Schußkanal spekulieren. War der Schütze jetzt ein Norweger oder ein „Stauffenberg“ aus den eigenen Reihen? Karl XII. jedenfalls starb vielen sehr gelegen. 

Der Tod Karls machte aus dem Krieg, der kein Ende finden wollte, erst recht einen Schwedischen Erbfolgekrieg. Der König hinterließ keine Kinder, bloß zwei Schwestern. Das Rennen machte gegen alle dynastischen Gepflogenheiten die jüngere: Ulrike Eleonore, verheiratet mit dem Landgrafen von Hessen-Kassel. Die ältere Schwester Hedwig war verstorben, doch sie hatte einen Sohn, den Herzog Karl Friedrich von Gottorf, eine Seitenlinie der Holsteiner, die immer schon ein Dorn im Fleische der Dänen gewesen war. An Schweden konnte Gottorf jetzt keinen Halt mehr finden. Man orientierte sich deshalb an Rußland: Karl Friedrich heiratete eine Tochter Peters des Großen. Sein Sohn Peter III. schaffte es später für kurze Zeit sogar auf den Zarenthron. Der Zwist zwischen Tante Ulrike und ihrem Neffen hätte beinahe eine erste Runde im Ringen von „Walfisch und Bär“ eingeläutet. Denn jetzt bekam Georg I. sein Bündnis mit Schweden. Er schickte die britische Flotte in die Ostsee – die dort nur Schwierigkeiten hatte, in den trügerischen Küstengewässern zu navigieren, wo hinter den Schären alle möglichen Kanonenboote auf Galeerenbasis lauerten. Vor allem aber: Georg bastelte an einer großen Allianz – nicht mehr gegen die Schweden, sondern gegen die Russen.      

Auch der Kaiser wurde gefragt: Doch der Habsburger Karl VI. lehnte ab. Sein Augenmerk war aufs Mittelmeer gerichtet, nicht auf die Ostsee. Er hatte keine Lust, für das perfide Albion – das ihm schließlich doch nicht die spanische Krone verschafft hatte – die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Doch Karl VI. war kein Karl XII. Seine Ablehnung war eindeutig und doch doppeldeutig formuliert. Es gebe zu einem Krieg gegen Rußland „weder convenienz noch possibilitet“, aber man solle die Zumutungen der Engländer auch „nicht platterdings abschlagen“. Aller Sorgen enthoben wurde er schließlich durch einen Börsenkrach: Die Engländer waren auf das geniale Taschenspielerkunststück verfallen, ihren Staatsgläubigern für ihre Papiere doch lieber Anteile an einer fabelhaften Handelsgesellschaft anzubieten, der South Sea Company. Viele Anleger fielen prompt auf die verlockenden Perspektiven in Übersee herein. Im September 1720 platzte die Blase. Immerhin: Die Briten waren damit einen guten Teil ihrer Kriegskosten losgeworden; aber für einen neuen Krieg würde ihnen gerade jetzt niemand mehr etwas borgen. Die Zeche zahlten die Schweden. Sie konnten sich nicht länger darauf verlassen, daß die englische Flotte sie vor einer russischen Invasion bewahrte, wenn sie den Krieg fortsetzten.

Es war Zeit, zum Schluß zu kommen, zum Frieden von Nystad, der schließlich am 10. September 1721 unterzeichnet wurde (für Staaten, die noch dem julianischen Kalender anhingen der 30. August). Fazit: Riga blieb russisch, Livland, Estland mit Reval und Sankt Petersburg sowieso. Schweden wurde bloß das Recht zugestanden, aus Livland weiterhin Getreide zu importieren, ohne „Lizenten“ (Ausfuhrzölle) begleichen zu müssen – und sie bekamen zwei Millionen Taler als Abfindung, immerhin ein halbes Jahresbudget. Der livländische Adel nahm es nicht tragisch. Karls XII. Vater hatte sich durch seine Bodenreform unbeliebt gemacht. Mit Nachsicht aller Taxen – und dem Adel wurden sie mitnichten erlassen – konnte man diese absolutistischen Allüren als Bauernschutz feiern. Peter hatte zwar eine litauische Bauerntochter geheiratet, die spätere Zarin Katharina I., aber er ließ die baltischen Barone schalten und walten. Noch 1917/18 berief sich der meist deutsche Adel in Livland auf die Privilegien, die ihm einst im Frieden von Nystad verbrieft worden waren. 

Schweden hatte verloren – Rußland hatte gewonnen. Das ließ sich selbst auf kleinformatigen Karten mit freiem Auge wahrnehmen. Preußen und Hannover, die beiden Späteinsteiger, hatten sich mit Stettin und Stade (dem seit 1648 schwedischen Fürstbistum Bremen) ihren Zugang zum Meer gesichert. Wesentlich für das nordische Gleichgewicht war, was zwar nicht in Nystad beschlossen, aber damals mit abgesegnet wurde: Das vereinigte Königreich von Dänemark und Norwegen war leer ausgegangen. Es wurde von den Engländern zum Frieden gezwungen, ohne von all den schönen Provinzen, die es im Laufe des letzten Jahrhunderts eine nach der anderen verloren hatte, von Schonen bis Gotland, auch nur eine einzige zurückzubekommen. Als Trostpflaster hatte es sich von seinen Verbündeten wenigstens Wismar und Rügen versprechen lassen. Daran wollte sich jetzt niemand mehr erinnern. Schweden behielt diesen Fuß in Deutschland noch das ganze achtzehnte Jahrhundert über. 

Und August der Starke? Er durfte sich wieder König von Polen nennen, aber sein Königtum stand ab jetzt unter russischer Kuratel.






Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.

Foto: Gustaf Cederström, „Der Leichnam Karls XII. von Schweden wird überführt“, Öl auf Leinwand, 1884: Sein Tod kam vielen gelegen