© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Ohne Leid keine Impfstoffe
Alternativmethoden sollen Tierversuche künftig auf ein unerläßliches Minimum reduzieren
Dieter Menke

Tierversuche sind in vielen westlichen Ländern ein hochemotionales Thema, das viele Bürger vor allem im deutschen Sprachraum mehr aufregt als die industrielle Nutztierhaltung. Was erstaunlich ist, weil in Deutschland auf jedes getötete Versuchstier etwa 300 geschlachtete Hühner, Puten, Schweine und Rinder kommen. Und diese sind – im Vergleich zu den im Dienst der Wissenschaft geopferten Laboraffen & Co. – weit weniger gut vor Schmerzen, Leiden und Schäden geschützt.

Für den Biologen Hanno Würbel, seit 2011 Professor für Tierschutz am Department of Clinical Research and Veterinary Public Health der Universität Bern, ist dieses ungleich verteilte Mitleid eine Folge von „Wahrnehmungsverzerrungen“: Wissenschaftler überließen die „Macht der Bilder“ weitgehend den Tierversuchsgegnern. Die Aufnahmen von Rhesusäffchen mit Schädelimplantat und verzerrtem Gesicht hätten sich im kollektiven Gedächtnis vor allem deshalb festsetzen können, weil es wenig Bilder aus Schlachthöfen gebe, sondern nur solche von glücklichen Kühen auf Alpenweiden.

Hinzu komme, daß die Öffentlichkeit das Leid in der Massentierhaltung als Kollateralschäden verbuche, während sie Schmerzen bei Versuchstieren als „vorsätzlich zugefügte Qualen“ verdamme. Um gegenzusteuern, haben Wissenschaftsorganisationen die Internetplattform „Tierversuche verstehen“ eingerichtet, um mehr „transparente Informationen und offene Kommunikation“ zu diesem umstrittenen Thema bereitzustellen. Man trage damit der durch Umfragen bestätigten Realität Rechnung, daß immer mehr Deutsche größere Anstrengungen bei der Entwicklung tierfreier Alternativen fordern und schwer belastende Tierversuche ablehnen.

Radikale Tierversuchsgegner argumentieren zudem gern, die Ergebnisse aus Tierversuchen ließen sich nicht auf den Menschen übertragen. Was für den Berner Professor in dieser Ausschließlichkeit schlicht falsch ist, da „humanmedizinisches Wissen über biologische Vorgänge maßgeblich auf Tierversuchen beruht, ganz zu schweigen von der Tiermedizin“. Würbel hält ein Minimum an Tierversuchen für unverzichtbar, die müßten aber durch ein erheblich verbessertes Qualitätsmanagement begleitet werden.

Und das Coronavirus hat zusätzliche Argumente geliefert: Die Pandemie habe das Interesse an Wissenschaft schlagartig erhöht. Bei Sars-CoV-2, so erläutert der bei „Tierversuche verstehen“ als Referent tätige Neurobiologe Roman Stilling, erfahre die Welt „erstmals live, wie medizinische Forschung funktioniert“. Dabei lerne man auch verstehen, daß die Entwicklung mRNA-basierter Impfstoffe von Biontech und Moderna auch dank der Versuchstiere gelang. „Ohne 20 Jahre währende tierexperimentelle Forschung“, so wird Stilling durch eine Stellungnahme der Max-Planck-Gesellschaft bestätigt, „hätten wir diese Impfstoffe heute nicht und damit auch keine Perspektiven für ein weitgehend normales Leben.“

„Viele grundlegende Mechanismen im Körper noch nicht verstanden“

Damit dürfte Fundamentalisten wie Kathrin Herrmann etwas der Wind aus den Segeln genommen sein. Die Veterinärin, die seit 2017 an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore nach Alternativen zu Tierversuchen forscht, ist im Nebenamt Landestierschutzbeauftragte in Berlin, das sie zur „Hauptstadt der tierfreien Forschungsmethoden“ formen möchte. Ganz im Sinne militanter Tierschützer glaubt Herrmann, daß „95 Prozent der menschlichen Krankheiten in Zusammenhang mit unserem Lifestyle stehen“, was den Einsatz von Tiermodellen „wenig zielführend“ erscheinen ließe. Gelder für Tierversuche sollte man lieber gleich in die Erforschung tierfreier Methoden investieren.

Ein solch optimistisches Vertrauen in Alternativen hält Bernhard Hiebl (Tierärztliche Hochschule Hannover) für naiv: „Wir haben viele grundlegende Mechanismen im Körper einfach noch nicht gut verstanden, um alles im Modell nachstellen zu können.“ Daher sei der Tierversuch derzeit zwar keine gute, aber letztendlich „die einzige Option“. Und zwar gerade bei der Erforschung des Nerven- und Immunsystems, wo jedes zehnte der zwei Millionen Versuchstiere Verwendung finde. Der bislang „einzigen Option“ wurde der Raum für Tierversuche kontinuierlich verengt: Die aus dem Etat des Agrarministeriums geförderte Forschung mit Zellkulturen und computergestützten Modellen statt an lebenden Tieren.

Diese Alternativmethoden zählen aber zur Spitzentechnologie. Und die erfordert Zeit und Geld, wie Beate Niesler vom Interdisziplinären Zentrum zur Erforschung von Darmgesundheit an der Universität Heidelberg betont. Sie arbeitet „tierfrei“, an außerhalb des Organismus gezüchteten Zellmodellen des Nervensystems im Darm. Statt auf Mäuse zurückzugreifen, entschied sich die Biologieprofessorin für die „Organoid“-Entwicklung, eines in vitro erzeugten Mini-Organs. Aus einem kleinen Stück Patientendarm extrahiert sie verschiedene Zellformen, aus denen dann in speziellen Zellkulturschalen unter Zugabe chemischer Zusätze kleinste Organgewebe etwa in Form von Nervenzellen wachsen.

So könne man den Entwicklungsprozeß über den gesamten Verlauf beobachten und untersuchen, an welchen Stellen und unter welchen zusätzlichen Streßfaktoren Krankheiten entstehen. Bis 2026 will Niesler die Modelle um weitere Schichten mit Immun- und Epithelzellen ergänzen, die die äußere Schicht der „hochgradig komplizierten“ Darmwand bilden, womit sich in ferner Zukunft Therapien für Darmkrankheiten erproben lassen. Schon für das einfachere, nur aus Nervenzellen bestehende Modell benötigte Nieslers Team eine achtjährige, von der Stuttgarter Landesregierung mit einer halben Million Euro finanzierte Forschungsarbeit.

Ein Aufwand, der sich für Bernhard Hiebl lohnt, weil er zwar nur langfristige, im Vergleich mit den Verheißungen der Berliner Tierschutzbeauftragten jedoch realistische Perspektiven eröffnet. Einmal entwickelt, wären Alternativmethoden günstiger als Tierversuche – und sie ersparen Tieren Leid und den Forschern psychologischen Streß.

Deutsche Universitätszeitung 6/21:

 www.duz.de

 www.tierversuche-verstehen.de

 www.tierschutz.vetsuisse.unibe.ch

Foto: Schimpanse: Menschenaffen dürfen erst seit 2002 in der EU nicht mehr als Versuchstiere eingesetzt werden