© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/21 / 10. September 2021

Der Flaneur
Regeln am Berg
Reiner Brinkmann

Den Hut hab ich längst in die Hand genommen. Die Stirn ist schweißbedeckt. Fuß vor Fuß setze ich meine Schritte auf den feuchtweichen, steil ansteigenden österreichischen Boden. Der frische Duft der Kiefernbäume mischt sich mit dem modrig-würzigen Geruch des Waldes. Mit jedem Schritt gewinne ich an Höhe. Immer wieder gibt eine lichte Stelle den Blick frei auf das tiefe Tal. 

Stille. Das ewig kreisende Alltagsgedankenkarussell in meinem Kopf kommt hier zur Ruhe, bis es schließlich ganz stillsteht. Gedankenpause. Alles hier ist meiner gewohnten Stadtwelt fremd. Die umgebenden Bergmassive ebenso wie der Bussard, der über dem Tal seine Kreise zieht. 

Es ist, als würde der Kleingeist der Menschheit vor der Szenerie dieses gewaltigen Naturschauspiels in Demut versinken. Mein Blick hebt sich, und in den warmen Sonnenstrahlen erblicke ich blinzelnd einen Gasthof, verlockend und einladend. 

Der Moment kommt mir vor wie ein einziges Versprechen, doch dann kommt die Kellnerin.

Üppige Hängegeranien zieren die Balkone, Ziegen und Rinder weiden um das Gehöft, das von Obstbaumwiesen umschlossen ist. Ich sitze in der rustikalen Weinlaube dieser gastlichen Stätte. Die stämmige Kellnerin setzt ein großes schaumgekröntes Bier vor mir ab. Noch während der erste kühle Schluck mich erfrischt, nehme ich die Speisekarte zur Hand, die hausgemachte Leckereien verspricht. Es kommt mir in diesem Moment alles wie ein einziges Versprechen vor. 

Das Versprechen auf ein Heute und ein Morgen, in dem wir Mensch sein dürfen, in dem wir frei sein dürfen und in dem wir in Demut unsere Rolle in der Natur erkennen. Doch dann kommt die Serviererin noch einmal an meinen Tisch und bittet mich, Namen und Telefonnummer zu notieren. 

Ich hatte die Maßnahmenregel hier oben schon fast verdrängt. Als wäre ich kurz aus einem Traum erwacht, notiere ich ordentlich und frage: „Gibt es hier nicht die 3-G-Regel?“ 

Sie lächelt und weist auf einen Zettel, der munter an der Eingangstür der Gaststätte flattert. „Hier gilt die 3-G-Regel: g’schneuzt, g’waschn, g’kammpelt“. Ich lehne mich entspannt zurück und spüre die Hoffnung, daß es immer Orte wie diesen geben wird, an denen wir, was auch kommt, zu uns zurückfinden.