© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Ein sanftes Ruhekissen
Linker Extremismus: Der Fall Lina E., die Sympathisanten und der Niedergang der Verantwortungsethik
Fabian Schmidt-Ahmad

Die Antifa hat ihre Jeanne d’Arc gefunden. Für linksextreme Organisationen war der Prozeßauftakt gegen Lina E. und ihre mutmaßlichen Komplizen Mitte vergangener Woche in Dresden willkommene Gelegenheit zu Schaulauf und Muskelspiel. Und der üblichen Opfer-Täter-Umkehr: „Nicht die Faschisten und ihre Terrorpläne werden öffentlich problematisiert, sondern jene, denen vorgeworfen wird, sich gegen diese eingesetzt zu haben, werden als Terroristen dargestellt“, weiß das Bündnis „Freiheit für Lina“.

Mit dieser Wahrnehmungsstörung ist das Bündnis nicht allein, wie der Hashtag #freelina zeigt. „Verfahren kosten Geld“, mahnt hier beispielsweise taz-Journalist Christoph Wimmer und ruft zu Spenden auf. Wer dabeisein möchte, kann aus einem breiten Angebot von Aufnähern, Stoffbeuteln, Hemden und mehr wählen. Neckisches, wiederkehrendes Motiv ein Hammer. Zur Erinnerung: Die Angeklagten stehen im Verdacht, Opfer mit Hammerschlägen gefoltert zu haben (siehe Seite 5).

Es ist diese Brutalität und Heimtücke, die in der deutschen Presse Betretenheit ausgelöst hat, von Irrlichtern wie Wimmer abgesehen. Zwischen verkühlten Berichten und gewundenen Kommentaren schimmert die Angst auf, sich im Laufe der Jahre eine neue RAF herangezüchtet zu haben. Eine linke Spaß-Guerilla, die lange Zeit mit wohlwollendem Augenzwinkern betrachtet wurde, bis es dann plötzlich blutig wurde.

Der Vergleich zeigt aber auch den Unterschied zwischen damaliger und heutiger Situation. Entgegen der eigenen Legendenerzählung war die 68er-Bewegung eine elitäre Angelegenheit, deren Befindlichkeit bei weiten Teilen der Gesellschaft auf Ablehnung stieß. Erst durch den gemeinsamen Marsch durch die Institutionen konnten die Lehrer, Anwälte, Besserverdiener zu einer uns alle prägenden Kraft werden. Augenfällig wird dies in der Verschiebung der politischen Ethik.

Nach Max Webers „Politik als Beruf“ entfaltet sich politisches Handeln in einem polaren Spannungsfeld von „Verantwortungsethik“ und „Gesinnungsethik“. Bei ersterer stellt sich der einzelne durch individuelles Tun in einen sozialen Sinnzusammenhang. Ethik heißt hier, „für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen“, unabhängig von der Intention. Er gleicht im Fall des Scheiterns daher dem Helden der Tragödie, der schuldlos schuldig geworden ist.

Ganz anders die Gesinnungsethik. Hier steht der einzelne in keinem Verhältnis zu anderen, sondern nur zur Ideologie: „‘Verantwortlich’ fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme zum Beispiel des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt. Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen.“

Die alte Bundesrepublik war im Sinne der Verantwortungsethik organisiert. Es war allgemein akzeptiert, daß ein Politiker die Verantwortung für aufkommende Mißstände übernahm, auch wenn er persönlich an ihnen völlig unschuldig war. Heutzutage ist dieser Gedanke Politikern von der Staatsspitze abwärts absolut fremd. Ihre Gesinnung ist rein, also brauchen sie für das Pech anderer Leute auch keine persönlichen Einbußen hinzunehmen. Wie in der Politik, so auch in den Niederungen der Justiz.

Früher interessierte es nicht, ob der einzelne psychisch verwirrt, traumatisiert, eine schlechte Kindheit hatte. War er ein Einbrecher, wurde er als Einbrecher gerichtet. Und zwar nur als das. Auch die RAF-Terroristen, gleichwohl sie die Gesellschaft herausfordern wollten, wurden als das verurteilt, was sie durch ihre Handlungen eben waren: Mörder, Bankräuber, Mittäter und so weiter. Ihre Gesinnung war für die Strafzumessung ohne Belang. Heute, im Zeichen von „Haßkriminalität“, ist das anders.

Wenn ein – weißer – Kellner sich weigert, einen schwarzen Gast zu bedienen und womöglich durchblicken läßt, daß ihn dessen Hautfarbe stört, so ist ihm die härteste Strafe sicher, die das Gesetz zuläßt. Sollte der Gast daraufhin das Messer zücken und ihn niederstrecken, so darf dieser wohlbegründet auf Milde hoffen, obwohl hier als Handlung eine Bagatelle gegen ein Tötungsdelikt steht. Tauschen wir die Hautfarbe der Protagonisten, so kommen wir zu einem gegenteiligen Ergebnis.

Das ist die Folge, wenn die unserem Recht hinterlegte Verantwortungsethik verdrängt und die Ideologie zum Faktor wird. Noch bleibt der Rechtsstaat als widerständige Hülle bestehen, doch die Schäden sind unübersehbar. Unzählige Beispiele, wo gleiche Handlungen vor Gericht und vor allem öffentlich völlig unterschiedlich bewertet werden, wie durch einfachen Austausch leicht zu erkennen.

Sogenannte „Rechte“, die ihre politische Macht nutzen, ihr Weltbild durchzusetzen und jede andere Sicht kriminalisieren; die sich mit öffentlichen Mitteln eine gewaltbereite Reservearmee aufbauen, die mißliebige Demonstrationen angreift; die einzelne als „Feinde“ markiert, die dann aus der Anonymität heraus verunglimpft, deren Haustür mit Kot, deren Auto angezündet wird, ohne daß das Empörung auslöst: Hier könnte zu Recht von einer Bedrohung unserer Freiheit durch „Rechte“ gesprochen werden.

Paßt jedoch die Ideologie, schläft der Gesinnungsethiker vor sich hin. Nur manchmal zuckt er zusammen, wenn der antifaschistische Racheengel mit seinen Schergen es doch zu arg getrieben hat. Damit kommen wir zum wesentlichen Unterschied zwischen ihm und dem Verantwortungsethiker. Letzterer benötigt, da er von sich selbst abstrahieren, seine Wirkung auf andere abschätzen muß, Verstand. Der Gesinnungsethiker braucht dagegen Gefühle. Und die liegen lange vor dem Denken.

Um eine Ideologie mit echtem, ehrlichem Gefühl vertreten zu können, muß man ihre Widersprüche zur Wirklichkeit ausblenden. Das gelingt am besten, wenn man schlicht dumm ist. Wahrscheinlich glauben Linksextremisten wie Lina E. ernsthaft, den Faschismus zu bekämpfen. Und unser politisches Personal, klug zu sein. Wenn Verantwortungsethik potentiell Tragödie, so ist Gesinnungsethik potentiell Komödie. Leider ohne Vorhang und Trennung zum Publikum, und das ist wieder tragisch.