© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

„Die Bürger interessiert das Hier und Jetzt“
Alice Weidel führt gemeinsam mit Tino Chrupalla die AfD in den Bundestagswahlkampf: Doch die Partei stagniert. Es gelingt ihr nicht, so wahrgenommen zu werden, wie sie es sich wünscht. Warum nicht?
Moritz Schwarz

Frau Dr. Weidel, was bieten Sie und Tino Chrupalla den Wählern – im Vergleich zu Joachim Wundrak und Joana Cotar, gegen die Sie sich im Kampf um das AfD-Spitzenkandidatenduo durchgesetzt haben?

Alice Weidel: Wir bieten natürlich die AfD als dringend nötige Reformkraft für Deutschland.

Gibt es also gar keinen Unterschied zwischen den beiden Duos?

Weidel: Tino Chrupalla und ich stehen für das Programm unserer Partei, dabei ergänzen wir uns sehr gut und decken so das ganze Spektrum der AfD ab.

Was hat die AfD den Wählern für die nächste Legislaturperiode anzubieten?

Weidel: Wir freuen uns sehr auf eine Fortsetzung unserer konstruktiven Oppositionsarbeit. Wie in den vergangenen vier Jahren bewiesen, zwingen wir mit dem Instrument der namentlichen Abstimmung die anderen Parteien, sich zu positionieren. So können sich die Bürger jederzeit informieren, wie ihre Wahlkreisabgeordneten bei einzelnen politischen Fragen abgestimmt haben.

„Regierungsbeteiligung im Osten innerhalb der nächsten Jahre“

Ist das trotz allem nicht dürftig, glauben Sie nicht, Ihre Wähler wünschen eine Machtoption?

Weidel: Sie wissen selbst, daß das nicht nur von der AfD abhängt.  

Ja, aber haben Sie eine Strategie, um das Problem zu lösen?

Weidel: Ich bin überzeugt, mittel- bis langfristig wird man an der AfD nicht mehr vorbeikommen. In den nächsten zwei Legislaturperioden kommt es zu einer Regierungsbeteiligung in einem ostdeutschen Bundesland.

Wie das?   

Weidel: Der desolate Zustand der CDU ist auch Folge dessen, daß sie sich permanent einer konservativen Mehrheit verweigert und sich damit überflüssig macht. Setzt sie das fort, zerfällt sie weiter.

Bei der letzten Wahl in einem mitteldeutschen Bundesland, in Sachsen-Anhalt, hat die CDU die AfD haushoch überrundet, obwohl sie anfangs hinter ihr lag.

Weidel: Die CDU hat in den letzten Jahren nicht nur über ein Drittel ihrer Mitglieder verloren, sondern vor allem massiv an Wählerstimmen. In manchen Ländern ist sie von über vierzig Prozent auf knapp über zwanzig gefallen, was dramatisch ist! Ich halte die Pulverisierung der CDU nicht für ein momentanes Phänomen, sondern für einen historischen Prozeß, in den sie Frau Merkel geführt hat.

Also hat die AfD keine Strategie, sondern wartet einfach ab?

Weidel: Nein, wir haben diverse Strategien.

Zum Beispiel?

Weidel: Das Problem ist, daß der Ball nicht bei uns liegt, sondern bei der Union, die mit ihrer Verweigerungshaltung jede Koalition blockiert. Sie wird es aber nicht ewig durchhalten können.
Allen in der CDU/CSU, die sich intern für eine Kooperation eingesetzt haben, ist die AfD allerdings mit schöner Regelmäßigkeit in den Rücken gefallen.

Weidel: Das kann ich nicht erkennen.

Gibt es nicht eine Reihe schlimmer Äußerungen, mit denen die AfD denen, die sie hassen und ausgrenzen wollen, äußerst produktiv entgegengearbeitet hat?

Weidel: Ich kenne keine solchen „schlimmen Äußerungen“. Das ist ja ein Duktus wie bei der taz!

Warum profitiert die AfD denn nicht vom Niedergang der Union?

Weidel: Ich glaube, der Wähler will, so widersprüchlich es klingt, Wechsel unter Wahrung der Kontinuität. Das erklärt auch, warum absurderweise nun ausgerechnet Olaf Scholz eine Wechselstimmung verkörpert, obwohl er Mitglied der jetzigen Regierung und für so viele Fehlentwicklungen mitverantwortlich ist. Obgleich ich kaum glaube, daß sich das am Wahltag wirklich bestätigen wird. Jedenfalls ist Deutschland nicht Frankreich, wo die Leute entschlossen in gelben Westen auf die Straße gehen. Und vielen ist eine als Protestpartei wahrgenommene Alternative noch immer zu gewagt – das erscheint konservativen Wählern oft als Risiko, das sie per se nicht eingehen. Die Demoskopie zeigt klar, daß die Außenansicht der Partei leider nicht dem entspricht, was wir uns wünschen. Das liegt zum einen an den Medien, von denen viele eine Entgrenzungsstrategie verfolgen. Zum anderen aber sind einige Probleme hausgemacht.

Nämlich?

Weidel: Etwa die Thematisierung der dunkleren Kapitel der deutschen Geschichte. Die Bürger interessieren sich für das Hier und Jetzt! Die Analyse der Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg hat gezeigt – und die Demoskopie sagt das auch –, daß die AfD nicht als erster Problemlöser wahrgenommen wird. Kaufkraftverlust, explodierende Strompreise, Familien, die trotz zwei Einkommen ihre Kosten nicht decken können, unsichere Rente, unkontrollierte Zuwanderung, überbordende Kriminalität – das sind die Themen, die die Menschen bewegen, weniger die Beschäftigung mit der Vergangenheit.

„Es kommt auf den Duktus an: Hart in der Sache, versöhnlich im Ton!“

Sicher haben die geschichtspolitischen Äußerungen Höckes oder Gaulands diese Wirkung entfaltet, allerdings waren sie inhaltlich nicht falsch. Müssen Sie als Problem nicht aber auch jene Vielzahl schlimmer Äußerungen ansprechen, die tatsächlich inhaltlich falsch sind, wie „Migranten vergasen“ des damaligen Pressesprechers Christian Lüth, oder die Selbstbezeichnung als „freundliches Gesicht des Nationalsozialismus“ des NRW-Vizelandesvorsitzenden Matthias Helferich?

Weidel: Natürlich kann man auch die Vergangenheit thematisieren, es kommt dabei auf den Duktus an: Gerne hart in der Sache, aber versöhnlich im Ton! Unsere Mitglieder stehen auf dem Boden des Grundgesetzes, und wenn das doch mal nicht der Fall ist, dann ziehen wir alle Register! Vergessen wird, daß andere Parteien ein größeres Extremismus-Problem haben, etwa durch Verflechtung mit der terroristischen Antifa. Man fragt sich, wo da der Verfassungsschutz bleibt? Oder die CDU, die im Erzgebirge einen parteilosen NPD-Gemeinderat zur Kommunalwahl aufgestellt hat, oder im Kreis Anhalt-Bitterfeld bis 2019 einen ehemaligen Rechtsradikalen mit Hakenkreuztätowierung im Vorstand sitzen hatte. Das wäre bei uns unmöglich, schon weil solche Leute wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses nicht in die Partei kommen.

„Wir dürfen unseren Ehrenamtlichen nicht derart in den Rücken fallen“

Das ändert aber nichts daran, daß die AfD ihr Problem nicht in den Griff kriegt, denn immer wieder kommt es zu neuen Zwischenfällen.

Weidel: Wir kriegen die Sache in den Griff!

Das hat die Partei schon oft versprochen. Wie soll der Wähler darauf vertrauen, daß sie ihr Wort diesmal nicht wieder bricht?

Weidel: Ich will auch klarstellen, daß der eben von Ihnen angesprochene Fall Helferich in den Medien oft falsch dargestellt wird. Dabei blieb mir, als ich zum ersten Mal davon las, selbst die Luft weg. Dann aber erfuhr ich, daß nicht Herr Helferich die Wendung, er sei das „freundliche Gesicht des Nationalsozialismus“ geprägt hat, sondern politische Gegner ihn so immer wieder verunglimpft haben. Bis er den Begriff genervt einmal in einem privaten Chat mit einer einzigen anderen Person und im ironischen Sinne aufgegriffen hat.

Aber wie kann jemand, der von „Migranten vergasen“ spricht, wenn auch nur als Pressesprecher, jahrelang zum Stab der Parteispitze gehören?


Weidel: Moment, hier hat die Fraktion umgehend reagiert. Herr Lüth ist seitdem kein Pressesprecher mehr. Im übrigen müssen Sie da diejenigen fragen, die mit ihm intensiver zusammengearbeitet haben.

Stimmt, aber Sie sind nun mal die Spitzenkandidatin.

Weidel: Ich habe seit 2017 meinen eigenen Pressesprecher.

Es geht auch nicht um Sie, sondern um das Problem, daß die AfD nicht das Nötige unternimmt, um zu verhindern, daß ihren vielen unbescholtenen Mandatsträgern, Wahlkämpfern sowie Bürgern, die sich in Freundes- und Kollegenkreis für die Partei einsetzen, immer wieder ein Dolch in den Rücken gestoßen wird.

Weidel: Das ist in der Tat das, was ich intern auch immer wieder anmahne, unseren vielen Ehrenamtlichen nicht derart in den Rücken zu fallen. Aber wir tun unser Äußerstes, um das auch durchzusetzen.    

Ist das glaubhaft? Die dafür ins Leben gerufene Arbeitsgruppe „Verfassungsschutz“, die dafür sorgen sollte, daß die Partei disziplinierter auftritt und keine unnötigen Angriffspunkte mehr bietet, ist versandet.

Weidel: Ich selbst habe diese Arbeitsgruppe gegründet, die auch sehr gute Arbeit geleistet hat! Doch der Bundesvorstand hat nun entschieden, daß man sie mit Ablauf Oktober nicht mehr benötige.

Dann müssen sich also alle, die sich für die AfD einsetzen, schon auf den nächsten Dolchstoß gefaßt machen?

Weidel: Nein, wir bekämpfen das Problem, was die harten Maßnahmen in solchen Fällen beweisen.

Glauben Sie nicht, daß Ihre Wähler und Unterstützer keine Bestrafung wollen, sondern eine Verhinderung weiterer Fälle?

Weidel: Es stimmt, die proaktive Bekämpfung hat der Bundesvorstand ab Ende Oktober eingestellt.  

Sie sagten eingangs bezüglich der Außenwahrnehmung der Partei, die verhindere, daß man einen Teil der Wähler erreiche, der Ton mache die Musik. Ist es nicht auch ein Problem, daß solche Ermahnungen zwar von allen Führungspersonen der AfD kommen, diese aber selbst immer wieder mit schlechtem Beispiel vorangehen? Inklusive Sie selbst, Stichwort „Kopftuchmädchen, Messermänner und sonstige Taugenichtse“.

Weidel: Die Äußerung war vielleicht polarisierend, aber absolut wichtig, um eine Debatte anzustoßen. Denn wir haben einen gigantischen Anstieg an Messerattacken, die, wie die Medien gerne verschleiernd sagen, lediglich von einem „Mann“ verübt werden.

„Messermänner“ war nicht das Problem – doch warum sind „Kopftuchmädchen“ per se „Taugenichtse“?

Weidel: Der Begriff Kopftuchmädchen lehnt sich an Thilo Sarrazin an und fokussiert das Problem der Parallelgesellschaften und der Geschlechter­apartheid im muslimischen Kontext. „Taugenichtse“ jedoch habe ich sie nicht genannt.

„ ... und sonstige Taugenichtse“ – ergo gilt diese Qualifizierung auch für die Vorgenannten.

Weidel: Nein, das war eine Aufzählung. Wollen Sie jetzt weiter alle möglichen Äußerungen diskutieren?

Nein, aber alle Probleme, die blockieren, daß die AfD das tut, wozu sie da ist: ihre Inhalte durchzusetzen.

Weidel: Ich kann Ihnen versichern, daß wir durchgreifen. Leider sprechen wir in diesem Interview nicht über Inhalte. Die Bundestagswahl steht an und wir haben nicht einmal über die Programmatik gesprochen.

„Es findet eine Entgrenzung statt, die jeden Anstandes entbehrt“

Gerne, nur spielt die eigentlich gar keine Rolle, solange eine Partei nicht in der Lage ist, sie umzusetzen.

Weidel: Ich frage mich, ist es wirklich das, was die JUNGE FREIHEIT interessiert, wie schlimm wir sind?

Viele Bürger haben es nach vier Jahren einfach satt, daß sich die einzige konservative Reformkraft immer weiter von politischem Gestaltungseinfluß entfernt.

Weidel: Das war doch von Beginn an so, selbst unter Bernd Lucke. Wissen Sie nicht, daß bereits er auf Reisen aus dem Zug geworfen wurde? So war die Stimmung schon damals! Und es ist doch auch völlig klar, daß man jede Partei rechts der CDU/CSU zum Paria macht.

Weshalb es für sie noch wichtiger ist, sich klug zu verhalten.

Weidel: Ich glaube, unsere Hypothesen unterscheiden sich: Sie sagen, erst komme Koalitionsfähigkeit als Zugang zur Macht. Das ist eine Position, die ich früher auch vertreten habe. Inzwischen aber sage ich aufgrund meiner Erfahrungen, daß es nahezu egal ist, was wir tun: Wir werden immer in die Paria-Rolle gezwängt! Das merke ich auch ganz deutlich, in Interviews, in politischen Debatten. Da findet eine absolute Entgrenzung statt, die jeden Anstandes entbehrt!

Kein Zweifel, aber das läßt sich nicht ändern. Um so mehr heißt es, sich darauf zu konzentrieren, was man ändern kann: die eigene Aufstellung.

Weidel: Genau, das tun wir auch!




Dr. Alice Weidel ist gemeinsam mit Co-Parteichef Tino Chrupalla Spitzenkandidatin der AfD für die Bundestagswahl und mit Alexander Gauland Vorsitzende der Bundestagsfraktion sowie Mitglied im Bundesvorstand und eine von drei stellvertretenden Parteivorsitzenden. Außerdem führt sie den Landesverband Baden-Württemberg und leitet den Bundesfachausschuß der Partei für Euro und Währung. Geboren 1979 in Gütersloh, beriet die Betriebs- und Volkswirtin unter anderem Unternehmen und internationale Organisationen für Goldman Sachs und war im Vorstandsbüro der Allianz Global Investors tätig.