© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Übergroße Verdrossenheit
Vor der Parlamentswahl in Rußland: Schlechte Umfragewerte für die Kremlpartei, Angst vor den Nichtwählern und die stete Frage nach der Zukunft von Präsident Wladimir Putin
Jörg Sobolewski

Zeiten von Machtübergaben und Nachfolgen sind meist Hochzeiten für Gerüchtestreuer. Je autokratischer desto heißer wird geplant und verschworen und vieles spricht dafür, daß die nächsten drei Jahre zu einer der interessantesten Episoden neuerer russischer Geschichte werden. Nicht nur in der Bundesrepublik stehen Wahlen an, auch in der Russischen Föderation wird über die neue Zusammensetzung des Parlaments abgestimmt. Anders als sein deutscher Gegenpart muß Wladimir Putin jedoch noch keine Umzugskartons packen. In Rußland wird über den nächsten Präsidenten erst 2024 abgestimmt, dort wird der Präsident direkt vom Volk gewählt.

Immer mehr junge Russen denken ans Auswandern

Dennoch beginnt die Post-Putin Ära bereits mit der diesjährigen Parlamentswahl. Zumindest wenn man Gerüchten aus der Moskauer Politikwelt Glauben schenkt. Putin, so heißt es, wolle 2024 nicht mehr antreten, die aktuelle Wahl sei vor allem für sein Vermächtnis wichtig. Der langjährige Präsident der Föderation will seinem Nachfolger ein gut bestelltes Feld hinterlassen. Dazu braucht Putin innenpolitische Stabilität und außenpolitische Glaubwürdigkeit. Massendemonstrationen, Wahlfälschungen oder sonstige Vorfälle würden beides beschädigen.

Als ein Zuckerbrot dazu gilt die Erhöhung der Gehälter für Militärangehörige, Kadetten, Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten und Rentner. Medienberichten zufolge sollen auch Ehegatten von Militärangehörigen, die im Ausland unter Vertrag stehen, davon profitieren.

Eine schwere Hypothek für den Wahltermin in der kommenden Woche, die durch ohnehin schlechte Umfragewerte für die Kremlpartei noch verschlechtert wird. Denn „Einiges Rußland“ liegt immer häufiger in den Daten der Demoskopen unter der magischen Schwelle von dreißig Prozent. Ein Rekordtiefstwert für Putin.

Ungewöhnlich zahlreich sind hingegen Nichtwähler und Unentschiedene. Denn die Politikverdrossenheit in Rußland ist groß. Immer mehr junge Russen denken über das Auswandern nach. Jeder zweite Russe zwischen 18 und 24 gibt mittlerweile an, das Land verlassen zu wollen.

Auch wenn nur wenige diesen Wunsch in die Tat umsetzen werden: Putin laufen im schlimmsten Fall die Wähler davon. Eine niedrige Wahlbeteiligung, so das Kalkül im Kreml, beschädigt aber die Legitimität der Regierung Putin und schmälert damit die Chancen auf eine erfolgreiche Machtübergabe.
An wen die Macht übergeben werden soll, ist ein weiterer Sorgenfaktor. Denn hinter vorgehaltener Hand machen sich einige Hoffnung auf das höchste Amt im Staat. Bis vor kurzem war Jewgeni Nikolajewitsch Sinitschew einer der Hoffnungsträger. Er zählte zu den „Silowiki“, den Militär- und Geheimdienstveteranen, die unter Putin die Schaltstellen der Macht besetzen. Sinitschew, ehemaliger Geheimdienstler erst in der Sowjetunion, dann in der russischen Föderation, galt als beliebt in der Bevölkerung.

Als Minister für Katastrophensituationen war der Familienvater gut vernetzt und weitgehend skandalfrei. Doch am 8. September starb Sinitschew unter seltsamen Umständen. Anscheinend versuchte der Minister einen ihn begleitenden Dokumentarfilmer zu retten. Dabei fielen beide über eine Klippe und verstarben an Ort und Stelle. Videoaufnahmen des Staatsbegräbnisses zeigen einen trauernden und ergriffenen Putin. Der Tote, so schreiben es die britische Daily Mail und die amerikanische New York Times, sei „ein enger Freund des Präsidenten gewesen“, dieser habe Sinitschew „als Wunschnachfolger gesehen“.

Tatsächlich hat Putin bereits mehrere als „Nachfolger“ gehandelte Politiker verschlissen. Etwa Sergej Iwanow, bis zu seiner Entlassung 2016 Präsidialamtschef, anschließend Sonderbeauftragter für Naturschutz. Der geschmeidige Ex-Geheimdienstler gilt mit seinen 68 Jahren mittlerweile als zu alt für das höchste Amt im Staate.

Verteidigungsminister Schoigu in Wartestellung

Ein Urteil, das auch dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu (66) droht. Er gilt als enger Vertrauter des Präsidenten. Die beiden pflegen eine Männerfreundschaft, gehen gemeinsam jagen oder fischen. Der durchsetzungsfähige Militär ist populär in Rußland, hat sich in der Vergangenheit als Krisenbekämpfer einen Namen gemacht und gilt allgemein als Politiker von Format. Neben seinem Alter vielleicht eines seiner größten Hindernisse. Denn Schoigu schuldet niemandem einen Gefallen, er kann auch langfristig aus dem Schatten seines Jagdfreunds heraustreten. Schoigu, so schreibt etwa der amerikanische Journalist Alec Luhn im Magazin Politico, könnte „zu stark“ als Nachfolger sein. Putin wolle „Rußland schon als sein Rußland behalten“, selbst nach seinem Abschied.

Sergej Sobjanin, der Bürgermeister Moskaus, macht sich ebenfalls Hoffnungen auf das Präsidialamt. Anders als Sinitschew, Schoigu oder Iwanow hat Sobjanin keine Vergangenheit im Militär oder Geheimdienst. Er hat eine Karriere als Bürgermeister verschiedener Städte der Föderation hinter sich, die ihn schließlich 2010 an die Spitze der russischen Hauptstadt schob. Er gilt als fähiger Verwalter, aber nicht als Sympathieträger. In seiner Stadt wurde er zuletzt mit einer der niedrigsten Wahlbeteiligungen der jüngeren russischen Geschichte wiedergewählt: Lediglich ein Drittel der Wähler ging zur Urne.