© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Der Staat war ich!
Abschied von Angela Merkel: Ihre Bilanz nach 16 Jahren Kanzlerschaft ist verheerend für das Land
Thorsten Hinz

Angela Merkel hat 16 Jahre lang, Tag für Tag, den Beweis erbracht, daß die Macht den verschleißt, der sie nicht hat. Sogar der halb erzwungene Abschied vom CDU-Vorsitz hat sie nicht geschwächt, sondern sich als eine weitere taktische Volte erwiesen, die ihre Kanzlerschaft befestigte. Sie hat sämtliche Gegner überspielt, ins Aus gestellt, politisch überlebt. Dazu zählen auch ihre publizistischen Kritiker, die mit den Jahren immer weniger wurden.

Ihre lange, durch drei Folgewahlen bestätigte Kanzlerschaft steht gegen alle praktische Vernunft, zumal ihre verheerende Bilanz sich früh abzeichnete: Die Infrastruktur im Land ist weitgehend verschlissen. Die Euro-Schuldenunion ist fast vollendet. Die Ausblutung der deutschen Steuerzahler und Sparer geht munter weiter. Die Bundeswehr ist demoralisiert und ohne fremde Transportflugzeuge nicht einmal bedingt einsatzbereit. Die höchsten Energiepreise in Europa finanzieren eine perspektivisch unsichere Energieversorgung. Die von der „Klimakanzlerin“ angeheizte Hysterie hat Deutschlands wichtigsten Industriezweig, die Autoindustrie, diskreditiert. Die Bundesrepublik ist auf dem Weg zum multireligiösen Vielvölkerstaat mit all seinen schwerwiegenden Begleiterscheinungen. Der „Kampf gegen Rechts“ ist zur milliardenschwer finanzierten Staatsideologie geworden. In seinem Gefolge haben sich Gesinnungsschnüffelei, Denunziationswesen und Stasi-Muff ausgebreitet.

Die Parteien bilden einen ununterscheidbaren rotgrünen Morast, in den auch die Union kopfunter versunken ist. Der Thüringer „Preußenschlag“, den Merkel während eines Auslandsbesuchs veranlaßte, reinstallierte eine abgewählte rot-rot-grüne Landesregierung und machte den Föderalismus zur Farce. Das einst hochangesehene Bundesverfassungsgericht ist gänzlich zur Filiale des Parteienstaates herabgewürdigt. Ein getreuer Schleppenträger Merkels sitzt ihm jetzt vor und befindet über die Rechtskonformität von Gesetzen, die er als Fraktionsvize von CDU/CSU in den Bundestag eingebracht hat. Das Land verblödet unaufhaltsam, angefangen bei den durchideologisierten Universitäten bis hinunter zu den Grundschulen. Oder umgekehrt.

Die Bevölkerung ist durch die Corona-Panikmache neurotisiert. Das Regieren im permanenten Ausnahme-Modus ist zum politischen Herzstück einer neuen Normalität geworden.

Merkel wurde als „mächtigster Frau der Welt“ geschmeichelt, doch bestanden ihre außenpolitischen Leistungen vor allem darin, im Ausland Geld aus den deutschen Steuer- und Sozialkassen zu verteilen. Die Beziehungen zu Rußland sind so schlecht wie nie seit 1990. Ein brauchbares Konzept für den Umgang mit China hat sie nicht entwickeln lassen. Eine Idee, wie die EU die Lücke füllen könnte, welche die weltpolitisch überdehnten USA gerade hinterlassen, steht ebenfalls aus. Merkel hat die internationale Position der EU sogar deutlich geschwächt, denn unter dem Eindruck des „Hippie-Staates“ (Anthony Glees), den die Bundesrepublik durch ihre Flüchtlingspolitik aussandte, ist die Atommacht Großbritannien aus der EU ausgeschieden. Der chaotische Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan spricht ebenfalls nicht für weltpolitischen Durch- und Weitblick.

Das Credo, dem ihre Politik zunächst unbewußt, dann ganz gezielt folgte, formulierte sie im Oktober 2015, als sie bei Anne Will die Grenzöffnung rechtfertigte: „Sie können die Grenzen nicht schließen. Wir haben 3.000 Kilometer Landgrenze. Dann müssen wir einen Zaun bauen. Es gibt den Aufnahmestopp nicht.“ Ungehindert konnten junge Männer, vorwiegend muslimisch, ungebildet, oft gewaltaffin zu Hunderttausenden in ein Land strömen, dessen relativer Reichtum allein auf seiner Leistungsfähigkeit und geistig-technischen Kreativität beruht.

Die JUNGE FREIHEIT stellte damals zu Merkels Fernsehauftritt fest: „Das war und ist ein Frontalangriff auf den Bestand des Staates, der auf der Dreiheit aus Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt beruht. Das Staatsvolk, sein Eigeninteresse, seine Freiheits- und Abwehrrechte erklärte sie für unerheblich; sein Staatsgebiet gab sie preis, und die Gesetzlosigkeit erhob sie zum Gesetz.“ Für den Historiker Rolf Peter Sieferle war sie eine herostratische „Unheilsfigur“.
Es erstaunt, daß eine Frau ohne jegliches Charisma, ohne rhetorische Gaben eine derartige, geradezu revolutionäre Wirkung entfalten konnte. Eine Wirkung im Negativen gleichsam getragen vom Mehrheitswillen. Über ihre Machttechnik, ihre Seilschaften, ihren eingeschworenen Frauenclub, den sie zunächst in der CDU-Zentrale, dann im Kanzleramt installierte, ist einiges geschrieben und noch mehr gemutmaßt worden. Vieles wird sich im Zeitalter der SMS-Kommunikation kaum rekonstruieren lassen. Natürlich verfügt Merkel über enorme machiavellistische Fähigkeiten. Aber auch die müssen sich durch positive Leistungen, die die Menschen beeindrucken, irgendwann einmal legitimieren. Nehmen wir ihre drei am längsten amtierenden Vorgänger im Kanzleramt: Bismarck schuf den kleindeutschen Einheitsstaat und erhielt danach dem saturierten Reich den Frieden. Adenauer zimmerte aus den schwelenden Trümmern des Reiches ein staatliches Notdach. Und Helmut Kohl, lange als bräsig-verschlagene Machtmaschine verspottet, nahm im dramatischen Sommer 1989 das Heft des Handelns in die Hand und wurde zum „Kanzler der Einheit“. Aber Merkel?
Für die Merkel-Versteher ist gerade das Fehlen des großen Wurfes ein Zeichen ihrer Größe. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte meinte: „Sie kommt wie ein wandelndes Understatement daher, legt nicht Wert auf den prätentiösen Auftritt. Eine von Vernunft geleitete Politik wird geschäftsmäßig übersetzt.“ Soll heißen, sie betreibt das politisch Erforderliche nüchtern, sachbezogen, ohne dramatische Überzeichnung und stellt die eigene Person völlig zurück. Die politische Vernunft kommt bei ihr in Reinform, ohne überflüssige Arabesken zur Geltung. Damit ist ihr Handeln unwiderlegbar und in der Tat alternativlos.

Im Widerspruch dazu steht ihre Katastrophenbilanz. Was als Klarheit des Denkens gerühmt wird, stellt sich bei näherer Betrachtung als eine zugespitzte Variante instrumenteller Vernunft heraus, deren Zweckbestimmung so unwahrscheinlich ist, daß sie sich selbst der Einsicht kluger Leute entzieht. Ihr „Understatement“ ist der Auftritt einer extremen Narzißtin mit DDR-Erfahrung. Wer im Arbeiter-und-Bauernstaat seine Autonomie wahren wollte, ohne sich als Dissident ins soziale Aus zu katapultieren, der mußte lernen, sich zurücknehmen, unauffällig zu machen, Kröten zu schlucken, ohne eine Miene zu verziehen. Diese Fähigkeit hat Merkel erworben und nach der Wende 1989 so sehr perfektioniert, daß sie einer Mehrheit der Wähler als die selbstlose Dienerin im Weinberg des Landes erscheint.

Doch es gibt Schlüsselszenen, die ein anderes Bild nahelegen. Horst Seehofer sprach in einer Fernsehdokumentation darüber, wie schockiert sie war, als die FDP 2017 die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition beendete: „Die wollen mich weghaben.“ Nach zwölf Jahren wäre es wahrlich an der Zeit gewesen, für andere Platz zu machen, zumal der angerichtete Schaden bereits riesig und Besserung mit ihr nicht zu erwarten war. Auf Forderungen, die Politik der offenen Grenzen zu beenden, reagierte sie mit dem Ausspruch: „Dann ist das nicht mehr mein Land.“ Was in der Umkehrung soviel heißt wie: Der Staat bin immer noch ich! Solche Aussagen verweisen auf ein heimliches Hyper-Ego, das sich im mächtigsten politischen Amt im Staate auslebt. Zudem gibt es Schilderungen und Berichte, wie es sie amüsiert, andere ihre Macht spüren zu lassen. Es ist die reine Machtausübung, die sie interessiert. Die Inhalte sind beliebig.
Die scharfzüngige Politikexpertin Gertrud Höhler hat ihr eine Kombination aus Bindungs- und Empathielosigkeit attestiert. Merkel war es denn auch, die dem Partei-Patriarchen Helmut Kohl, für dessen „Mädchen“ sie lange gehalten wurde, den fälligen Abschied gab. Keiner der in alten Loyalitäten gefangenen Parteigranden aus dem Westen war dazu fähig gewesen. Man kann ihn Merkel zugute halten. Doch es klafft ein Graben zwischen der Absage an falsche Loyalitäten einerseits und Illoyalität aus Gleichgültig- und Bindungslosigkeit andererseits. Bei Merkel ist letzteres evident. Das bekam schon ihr erster Ehemann, dem sie ihren Namen verdankt, zu spüren, den sie 1981 nach vierjähriger Ehe kommentarlos verließ. Später erklärte sie: „Wir haben geheiratet, weil alle geheiratet haben.“ Sie habe sich halt getäuscht. So etwas passiert, aber es wirkt befremdlich, wie sie den geschiedenen Partner öffentlich als abgelegten Gebrauchsgegenstand behandelte und der Lächerlichkeit preisgab.

Ähnlich abrupt und illoyal wirken ihre politischen Positionswechsel. Multikulti sei „total gescheitert“, hatte sie 2010 unter donnerndem Beifall verkündet. Auch von einem Atomausstieg wollte sie lange Zeit nichts wissen. Von Konrad Adenauer stammt der Satz: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden.“ Im Lichte neuer Erfahrungen kann und muß man sogar seine Meinung ändern. Nur war zwischen 2010 und 2015 nichts geschehen, was eine Multikulti-Gesellschaft erstrebenswert machte. Und beim Fukushima-Unglück, das Merkel zu ihrem Damaskuserlebnis erklärte, starben die Menschen nicht durch atomare Strahlung, sondern durch ein Erdbeben und einen Tsunami in einer erdtektonisch riskanten Gegend. Es war nichts passiert, was einer promovierten Physikerin zu neuen energiepolitischen Einsichten verholfen haben könnte. Es war der pure, mehrheitsfähige Opportunismus, der ihre Kehrtwende bestimmte.
Höhlers Feststellung, daß Merkels Bindungslosigkeit ihr entscheidender machttaktischer Vorteil war, bedeutet auf der anderen Seite, daß die Bindungen, Loyalitäten, Überzeugungen ihrer Gegner und Konkurrenten längst brüchig waren und mit ihnen kein Staat mehr zu machen war. Bei der Zusammenstellung der Merkelschen Schadensbilanz fällt auf, daß sie keine der destruktiven Entwicklungen, die ihr zu Recht vorgehalten werden, initiiert und begonnen hat. Sie hat sie vorgefunden, fortgeführt und intensiviert. Den Afghanistan-Krieg hatte sie von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder geerbt. Die fatale und aus deutscher Sicht fahrlässig ausgehandelte europäische Gemeinschaftswährung hat sie Helmut Kohl zu verdanken; der aufgeblähte Teilnehmerkreis, zu dem sogar der Pleitestaat Griechenland zählt, geht gleichfalls auf Schröder zurück. Die Anti-Atomkraft-Stimmung ist eine moderne Variante der irrationalen, historisch jedoch leicht erklärbaren deutschen – „German“ – Angst. Die Grenzöffnung 2015 war der qualitative Umschlag der seit Jahrzehnten uferlosen Asylpraxis. Der „Kampf gegen Rechts“, die NS-Fixierung, die Moralisierung des Politischen bis hin zum Verzicht auf jeglichen Souveränitätsanspruch, die Kannibalisierung des Staats-Leviathan durch die Parteien – alles das und noch viel mehr war längst im Gange, ehe Merkel zur Kanzlerin gewählt wurde. Sie hat die autodestruktiven Energien im Land aufgesaugt, gebündelt, totalisiert. Als Unheilsfigur, als politischer Golem, ist sie durch die Landschaft der Bundesrepublik gestampft und hat gestoßen, was wankte. Merkel hat das poröse staatliche Notdach zum Einsturz gebracht.

Den anderen Teil ihrer Machtlust bezieht sie aus der globalen Sphäre, der sie sich längst zugehörig fühlt. Auf dem Wirtschaftsforum in Davos 2020 schwärmte sie in der ihr eigenen einfachen Sprache von einer „Transformation von gigantischem, historischen Ausmaß“, die die „gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens“ erfaßt, um die Erderwärmung zu stoppen. 30 Milliarden Euro wolle Deutschland für erneuerbare Energien bereitstellen, dafür zahlten die Deutschen die höchsten Strompreise in Europa. Merkel betrachtet das Land, zu dessen Hege und Pflege sie qua Amt bestellt ist, als Knetmasse, Reservoir, als Material, wie gesagt, um einen egomanischen Größenwahn auszuleben.
Ihre Eingriffe in den inneren Bestand und die verfassungsmäßige Ordnung des Staates sind durchaus vermerkt worden, doch hatte das auf die Debattenlage und die Wahrnehmung ihrer Person keinen Einfluß. Im Gegenteil, die veröffentlichte Meinung stimmte ihr zu. Unter ihrer Kanzlerschaft hat der deutsche Staat seine Funktion als die Organisationsform, mit der sich das deutsche Volk im politischen Raum behauptet, aufgegeben und ins Gegenteil verkehrt. Er entwickelt sich zur Verwaltungseinheit eines vom nationalen Demos abgelösten Globalregimes. Wobei nicht nur die politisch-mediale Klasse in diesen Prozeß involviert ist, sondern auch diejenigen, die durch ihn schutzlos gemacht und als Beute freigegeben werden. Bei den Bundestagswahlen 2017 haben rund 87 Prozent der Wahlteilnehmer für die etablierten Parteien gestimmt und sich de facto mit der eigenen Opferung einverstanden erklärt. Das Wahlergebnis 2021 wird diesen Befund nach aller Voraussicht bestätigen.