© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Der Berliner Rache-Apostel
Zum 100. Todestag des Rassenantisemiten und Sozialisten Eugen Dühring
Wolfgang Müller

Im Olympia-Jahr 1936 setzte die Reichsschrifttumskammer (RSK) zwei Werke eines gewissen Eugen Dühring auf ihre „Liste der verbotenen und unerwünschten Bücher“. Und zwar ausgerechnet jene Titel aus dem reichen Œuvre des am 21. September 1921 in Nowawes bei Potsdam „zwischen Abenddämmerung und voller Nacht“ mit 88 Jahren verschiedenen „Berliner Rache-Apostels“ (Nietzsche), deren Indizierung im nationalsozialistischen Deutschland am wenigsten zu erwarten gewesen wäre: „Die Judenfrage als Frage der Rassenschädlichkeit für Existenz, Sitten und Kultur der Völker“ (1881) in der 6. Auflage von 1930 sowie „Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres und die Ausscheidung alles Judenthums durch den modernen Völkergeist“ (1883) in der 3. Auflage von 1906.

Dazu mußte die Geheime Staatspolizei in Marsch gesetzt werden. Deren Zugriff auf das Lager einer Druckerei im thüringischen Altenburg glich jedoch einem Schlag ins Wasser. Statt der frisch verbotenen Bücher fanden die Beamten nur 800 Restexemplare von Dührings am meisten verkaufter, auch international stark beachteter Schrift „Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung“ (1865), in der 5., verbesserten Auflage von 1894. Um den Einsatz trotzdem nicht ganz als umsonst zu verbuchen, wurde dieser Posten kurzerhand beschlagnahmt und in einer Papiermühle vernichtet.
Erst als sich 1939 die Inhaber der Rechte an Dührings Werken mit einer Beschwerde über diesen unerhörten Akt der Zensur an das Amt Rosenberg, von dem die „Anregung“ an die RSK ausgegangen war, wandten, mußte die Behörde des NS-Chefideologen und „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der Bewegung“ eine ebenso peinliche wie unfaßbare Verwechslung eingestehen, die des „Kirchenvaters des Antisemitismus“ (Paulus Cassel, 1881) mit dem drittklassigen „jüdischen Sexualschriftsteller Eugen Dühren“.

Alfred Rosenberg wußte mit Dühring nichts anzufangen

Diese in den Akten des Amtes Rosenberg überlieferte Posse taugt kaum, um Gerd-Klaus Kaltenbrunners nunmehr über 50 Jahre alte, seitdem vielfach kolportierte, zuletzt in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen „Handbuch des Antisemitismus“ (Band 1, 2009) repetierte These zu stützen, Eugen Dühring sei ein überragend wichtiger „Vorläufer Hitlers“ gewesen. Bereits Kaltenbrunners Behauptung, Hitler habe sich „wiederholt öffentlich zu Dühring bekannt“, ist so barer Unsinn wie die Unterstellung seines in den völkischen Vorläufer-Sekten der NSDAP nachweisbaren „erheblichen Einflusses“.

Auch Alfred Rosenberg – der Index-Ausrutscher seines Amtes kam eben nicht von ungefähr – wußte mit Dühring nichts anzufangen. In dessen geschichtsphilosophischer Bibel „Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930), so resümiert der Chemnitzer Historiker Frank-Lothar Kroll, suche man daher ebenso vergeblich nach dem Namen des Begründers des „Rassenantisemitismus“ wie in der sonstigen üppigen Pamphletistik des NS-Reichsleiters, der auf die rassenbiologische Fundierung seines Antijudaismus zugunsten einer primär theologischen Argumentation ausdrücklich verzichtet habe („Utopie als Ideologie“, 1998). Das ist wahrlich ein sonderbarer „Vorläufer Hitlers“, dessen antisemitischen Tiraden die kanonischen Texte der Partei-Programmatiker ignorierten, während des „Führers“ Kulturfunktionäre nicht einen Augenblick stutzten, als sie die Beschlagnahme der Elaborate des heute als „Vordenker der Vernichtung“ gehandelten Streiters gegen die „Racenherrschaft der Juden“ verfügten.

Aber die Verwirrung beschränkt sich nicht auf die Rezeptionsgeschichte bis 1945. In Léon Poliakovs monumentaler „Geschichte des Antisemitismus“ (deutsch 1977) ist kein Platz für Dühring. Das von Angela Merkels Laudator Herfried Münkler (HU Berlin) mit edierte „Pipers Handbuch der politischen Ideen“ (Band 5, 1987) behauptet groteskerweise, Dühring, der ihn als „Judencreatur“ verachtete, sei wesentlich vom „Radauantisemiten“ Wilhelm Marr geprägt worden. Ähnlich desorientiert versuchte Wolfgang Benz (TU Berlin), der sich gern im Glanz des Nestors der „Antisemitismus-Forschung“ sonnt, im „Einfache Sprache“-Duktus der Bundeszentrale für politische Bildung einem breiten Publikum ein Vademecum unter dem Titel „Was ist Antisemitismus?“ (2004) zu verabfolgen, ohne sich bemüßigt zu fühlen, auf Dühring zu rekurrieren.
Für die Ideenhistorikerin Peggy Cosmann, der die bisher einzige, tiefschürfende Analyse der philosophischen Fundamente von Dührings „Moral- und Charakterantisemitismus“ zu danken ist („Physiodicee und Weltnemesis“, 2007), sind solche Ausblendungen kein Zufall, sondern Methode. Erleichtern sie doch die erinnerungspolitisch erwünschte Reduktion der Komplexität der Historie und räumen den Weg für Konstruktionen infantiler Kontinuitäten frei, wie sie sich, so Cosmann, in der „unhaltbaren Vorstellung einer unerläßlichen Entwicklung der deutschen Geschichte“ hin zum Völkermord an den Juden Europas „über Jahrhunderte hinweg“ manifestieren. Was für den Umgang mit Erscheinungen des Judenhasses, wie sie Dühring personifiziert, nur heißen könne, sie „nicht aus der Perspektive des Holocaust transparent zu machen“, sondern anhand der politisch-weltanschaulichen Konstellation seiner eigenen Zeit.

Der Universalgelehrte wollte ein postkapitalistisches Gemeinwesen

Und da ist festzuhalten, daß der früh erblindete Universalgelehrte in seiner produktivsten Phase, zwischen 1863, als er sich an der Berliner Universität als Privatdozent für Philosophie und Nationalökonomie etablierte, und 1877, als ihm seine Fakultät wegen beleidigender Kritik an ihren Koryphäen vom Kaliber eines Hermann von Helmholtz die Lehrberechtigung entzog, ein Mann der Linken war. Als Verfechter einer „streng wissenschaftlichen Weltanschauung“, als später Nachfahre der Aufklärung, Atheist, Materialist, Rationalist, Positivist, kurz: als „der deutsche Comte“, figurierte er als der „eigentliche, obschon ungekrönte König der damaligen Philosophie“ (Egon Friedell, 1931).

Darum verkörperte der sarkastisch-witzige Rhetor eine veritable geistige Macht, dessen ökonomische Ideen auf die während der Reichsgründungsära keineswegs schon auf Karl Marx festgelegte Sozialdemokratie ausstrahlten. Die Überwindung des Mensch und Natur ausbeutenden Kapitalismus, die Befreiung des Proletariats aus der Lohnsklaverei, darauf zielte nicht allein Marx’ „Kapital“, sondern auch Dührings „Cursus der National- und Socialökonomie“ von 1873. Mit dem fundamentalen Unterschied, daß Dühring Klassenkampf und Revolution für entbehrlich hielt, um ein postkapitalistisches, genossenschaftlich organisiertes „socialitäres Gemeinwesen“ aufzubauen. Mithin, wie Friedrich Engels in seiner „gesalzenen Abfertigung“ (Wilhelm Liebknecht) des gefährlichen Konkurrenten um die Köpfe der Arbeiterschaft höhnte („Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, 1878), als die bestehende Gesellschaft zu bejahen, nur „ohne Mißstände“.

Mit dem „Cursus“ und nicht mit dem dank Engels’ Intervention dann verbindlich gewordenen marxistischen Fahrplan Richtung „klassenlose Gesellschaft“ wäre die SPD bereits 1875 als jene Reformpartei entstanden, deren Hinwendung zum letztlich „staatstragenden Revisionismus“ der Dühring-Adept Eduard Bernstein als Parteitheoretiker erst um 1900 in die Wege leitete.

Daß es anders kam, lag an Dührings durch den Verlust des Lehramts bedingte Selbstisolation und pathologische Selbstradikalisierung, die die Erlösung vom Kapitalismus schließlich erhoffte von der physischen Liquidierung zuerst des „Finanzjudentums“, dann der gesamten, das welthistorische Prinzip des Bösen verkörpernden „jüdischen Rasse“.
Es gehörte zu den größten Treppenwitzen der Weltgeschichte, daß Eugen Dühring zwar nicht zum „Mann, der Hitler die Ideen gab“ (Wilfried Daim, 1958) und Souffleur der durchaus seinen Ungeist atmenden „Nürnberger Gesetze“ avancierte, sondern, vermittelt über seinen Anhänger, den Wirtschaftsberater des „genossenschaftlich“ denkenden Zionisten Theodor Herzl und nachmaligen Frankfurter Ökonomen Franz Oppenheimer („Weder Kapitalismus noch Kommunismus“, 1932) sowie dessen Meisterschüler Ludwig Erhard, zum Paten der „sozialen Marktwirtschaft“ der Bonner Republik.