© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Ein freier Staat ist auf Freie angewiesen
Gesinnungswächter im Dienst der politischen Sauberkeit verlangen von jedem Einzelnen von uns, sich ihren Ansichten zu unterwerfen
Eberhard Straub

Von der politischen und der persönlichen Freiheit sprechen systemrelevante Kräfte mittlerweile nur noch, um „Menschen hier in diesem Lande“ vor deren Übertreibung zu warnen. Denn der Mensch mit seinem unberechenbaren Eigensinn kann das planmäßige Funktionieren der Systeme und Subsysteme erheblich stören. In dieser rationalen Organisation komplexer Phänomene mit ihrer Objektivität ist der menschliche Faktor für Wissenschaftler, Politiker, Meinungsmacher, für alle Experten und Kompetenzträger ein irrationales und ärgerliches Element, das unbedingt systemkonform gemacht werden muß.

Die unbequeme Freiheit des Menschen kann zum Risiko werden, und gerade das soll ja systematisch vermieden werden. Ein Subsystem, wie das Gesundheitssystem, geriet in letzter Zeit in den Mittelpunkt struktureller Vorsichtsmaßnahmen. Die Gesundheit gilt auf einmal als der höchste Wert, weil ohne sie die Stabilität des gesamten Systems als „Wertegemeinschaft“ gefährdet sei. Deshalb wird jeder ununterbrochen von allen möglichen Orientierungshelfern gemahnt, sich in diesem Sinne umsichtig, also systemgerecht zu verhalten.

Gesundheit und das nackte Leben haben allerdings nichts mit Freiheit zu tun. Gerade Sklaven mußten gesund sein, um wertvoll für ihre Herren zu bleiben, weshalb diese sorgsam darauf achteten, das für sie arbeitende „Humankapital“ nicht leichtsinnig zu verschwenden. Die Freiheitsrechte des Einzelnen, zu deren Schutz der Staat eingesetzt wurde, sollten den Druck vieler unvermeidlicher Abhängigkeiten mildern und es jedem ermöglichen, sich zu einem eigenwilligen Charakter im Denken und Handeln zu bilden, an welcher Stelle in der gesellschaftlich-staatlichen Ordnung auch immer. Ein freier Staat war in diesem Sinne auf Freie angewiesen, die nicht nur Staatsbürger waren, sondern als sittliche Personen ihr Leben nach ihren Vorstellungen führten.

Die große Furcht vor demokratiefeindlichen Umtrieben

Deshalb gab es stets viele Variationen der Freiheit. Über mannigfache Freiheiten fand eine abstrakte Idee zur konkreten Gestalt, die das jeweilige Ich von den anderen unterschied. Mensch zu sein, das bedeutete, sein Eigentum zu entfalten als eine Welt für sich, unverwechselbar und keines Anderen Nachhall oder Widerschein, wie Hugo von Hofmannsthal im Anschluß an viele europäische Dichter, Theologen und Philosophen verlangte. Sokrates forderte dazu auf, sich selbst zu erkennen, um sich von dieser Aufgabe nicht unter dem Druck der wechselnden Zeiten mit ihren politischen Aufdringlichkeiten ablenken zu lassen. Der Christ war ohnehin dazu angehalten, unablässig an seine Erlösung und nicht an die der Menschheit zu denken.

In diesem Sinne konnte Goethe am 25. September 1809 Friedrich Wilhelm Riemer zu bedenken geben: „So ist es am Ende auch nur das Individuum, welches originäre, primäre Vorstellungen hat, das eigentlich Schätzbare und das, was zählt. Die anderen erhalten ihre Vorstellungen nur als Reflex, als Widerschein. Sie kleiden sich in gewisse Vorstellungen wissenschaftliche oder sittliche, wie in Modetrachten“. Menschen sollten möglichst nicht aus zweiter Hand leben und sich nicht von sich selbst entfremden.

Der Mensch als Gattungsbegriff konnte für die Menschenfreunde während zweier Jahrtausende nur unter dem Eindruck der zahllosen Sonderformen gewonnen werden. Denn in der Wirklichkeit gibt es nicht „den Menschen“, sondern nur eine Vielfalt von Menschen. Diesen mißtrauten allerdings von vornherein wehrhafte radikale Demokraten während der Französischen Revolution. Vor allem die Jakobiner sprachen vom Menschen in der Theorie und fürchteten deshalb die unverwechselbaren, überall vorhandenen Menschen.

In ihnen vermuteten sie hemmungslose Egoisten, welche die Freiheit als Vorwand gebrauchten, um ihren Vorteil ohne Rücksicht auf die nationale Volksgemeinschaft zu suchen, womit sie der politischen Gesundheit aufrechter Demokraten eheblichen Schaden zufügten. Wer sich den Maßnahmen einer höchsten Behörde, des durchregierenden Wohlfahrtsausschusses 1793/94 widersetzte, geriet sofort in den Ruf eines Sozialschädlings und mußte als solcher kenntlich gemacht werden. Fielen einzelne wegen Ungehorsams auf, gerieten sie sogleich in den Ruf, von antidemokratischen Verschwörern abhängig zu sein und das System als „Aristokrat“ und „Haßprediger“ destabilisieren zu wollen, weshalb ihre bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt werden mußten, um die Folgsamen und Vernünftigen davor zu bewahren, auf gefährliche Abwege im Umgang mit solch wertverwahrlosten Reaktionären, Papisten oder Österreichverstehern zu geraten.

Kein Zweifler am System der neuen Normalität, das beabsichtigte, die allgemeine Wohlfahrt vor Anschlägen zu bewahren, sollte sich in der Sicherheit wiegen dürfen, etwa unbehelligt leben zu dürfen. Wer sich verdächtig gemacht hatte, mußte damit rechnen, als unaufgeklärter Wissenschaftsfeind und  Querdenker diffamiert und denunziert zu werden. Jeder, der anders dachte als die mächtigen Sinnstifter beim Aufbruch in eine Gesellschaft gleichgesinnter, freier und wehrhafter Demokraten, bestätigte, noch in individualistischen Irrtümern befangen zu sein. Das Reich der Freiheit kann erst dann für jedermann beglückend zur Wirklichkeit werden, wenn alle genesen sind von trügerischen Anschauungen oder, weil ideologisch durchgeimpft, nicht mehr in der Gefahr schweben, sich anzustecken und der Solidargemeinschaft Schaden zuzufügen.

Rücksichtslos dem „Kampf gegen Rechts“ verpflichtet

Die Demokratie muß sich schrecklich machen. So hieß es damals. Demokraten dürfen nicht zimperlich und ängstlich sein bei ihrer Bemühung, jeden reif für die Freiheit und die Sozialpflichtigkeit des Ich mit seinem Eigentum zu machen. Die Polizei und die Verfassungsschützer, die genau hinsahen und jeden aufrechten Demokraten dazu anhielten, Augen und Ohren offen zu halten, bedurften für ihre heilsame Arbeit Orientierungshilfen, eine umfassende politisch-moralische Aufrüstung. Für diese sorgten Haltungsjournalisten, die das richtige Verständnis von Freiheit vermittelten. Deren Aufgabe bestand vor allem darin, die große Furcht vor demokratiefeindlichen Umtrieben wachzuhalten und Panik zu erzeugen, damit die Ängstlichen voll und ganz den fürsorglichen Autoritäten vertrauen und nicht den Mut verlieren. Die Gesellschaft als Verantwortungsgemeinschaft darf von jedem verlangen, nicht eigennützig an sich zu denken, da seines Glückes Unterpfand die Übereinstimmung mit dem Großen und Ganzen ist, das ihn wohltätig umfängt und behütet.

Sie ist deshalb auf ununterbrochenen politisch- moralischen Unterricht angewiesen, um die Bereitwilligen vor Nachlässigkeiten zu bewahren. Dafür sind unbestechliche Erziehungsberechtigte dauernd im Einsatz. Sie beobachten, beraten, verbessern und korrigieren im Dienst der politischen Sauberkeit, damit keine unreinen Gesinnungen mit ihrem Unrat das Zusammenleben der Vernünftigen und Reinen eintrüben und beschädigen können. Freiheit bedarf der reinen Vernunft. Denn es ist die Vernunft, die befreit und aufklärt, und allein dazu befähigt, daß jeder in jedem seinesgleichen erkennt und nicht etwa einen anderen oder gar Fremden. Auf diese Art bestätigt er, frei von Egoresten, zur Verantwortungsgemeinschaft der Vernünftigen zu gehören. „Wen solche Lehren nicht erfreu’n / verdienet nicht ein Mensch zu sein“, wie der sehr vernünftige Sarastro in Mozarts „Zauberflöte“ eindringlich zu bedenken gibt.

Der Menschenfreund befindet darüber, wer ein Mensch ist und darf die für ihn ganz unvernünftigen Freiheiten anderer einschränken oder aufheben, um sie seinem Menschenbild anzugleichen, damit die Menschheit sich in jedem vollendet und ihn allen anderen gleich macht. Das Recht und die mit ihr verbundene Freiheit werden dann überflüssig in der totalen Wertegemeinschaft grenzenloser Nächstenliebe. Sie schwingt wie die Poesie selig in sich selbst. Es wirkt daher ein wenig hilflos,  wenn in der heutigen neuen Normalität besorgte Freunde der Freiheit und des zu ihr gehörenden Rechtsstaates immer nur an George Orwell und seinen dystopischen Roman „1984“ erinnern und an die sogenannten „totalitären“ Bewegungen und Systeme des 20. Jahrhunderts. Meistens handelt es sich bei diesen kritischen Zeitgenossen um sogenannte Rechte, alle möglichen Nonkonformisten, Konservative, gebildete Ästheten oder um katholische Christen, die von ihrem Glauben auf die Freiheit verwiesen werden ebenso wie aufrichtige Lutheraner, die von der schwierigen Freiheit eines Christenmenschen nicht lassen wollen.

Sie alle waren gewohnt, Recht und Freiheit mit dem souveränen Rechtsstaat zu verbinden, der mit seinen Freiheiten auch die persönliche Freiheit verteidigt. Sie sind beunruhigt, daß der neutrale Staat mittlerweile längst zur Beute der Parteien, der Verbände und aller möglichen nicht-staatlichen Organisationen geworden ist. Den totalen Staat von „1984“ gibt es nicht, der die Freiheit bedroht. Die wirkliche Gefahr geht von den ehrgeizigen Ansprüchen emsiger „Zukunftsgestalter“ aus, die staatliche Mittel für ihre Zwecke einsetzen, um die Gesellschaft – wie einst während der revolutionären, totalen Demokratie – einer großen „Transformation“ gemäß ihrer „gesunden“ Ansichten zu unterwerfen. Die konkrete Schreckensherrschaft 1793/94 ist viel aktueller als ein fiktives „1984“.

Die Produzenten der systemrelevanten Mentalität verstehen sich als links, obwohl sie sich mit dem Kapitalismus und den ihn stützenden politischen Kräften und Bewegungen versöhnt haben und die soziale Macht der Besserverdienenden als Bourgeosieersatz schätzen, die alle möglichen  Populismen in ihre Schranken verweisen. Sie begrüßen die Globalisierung und die „eine Welt“ mit dem „einen Menschen“ unter dem Druck des alles vereinheitlichenden Geldes. Nationalstaaten, die sich von den Ideen der zu ihr gehörenden Souveränität nicht verabschieden, sind ihnen ein Ärgernis, denn sie halten die gewünschte Entwicklung zur totalen Homogenisierung auf und sollten in ihrer Selbständigkeit möglichst eingeschränkt werden. Die Eliten, die nach der Welteinheit streben, erblicken im Besonderen – in Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen – Hindernisse, um an ihr Ziel zu gelangen.

Im Migranten möchten sie daher die neue revolutionäre Kraft erkennen: an keine Nation und Kultur gebunden, überall und nirgends zu Hause, nur Mensch, unbelastet von ihn einengenden Traditionen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die systemrelevanten Meinungsbildner im rücksichtlosen Kampf gegen Rechts ihre besondere Verpflichtung sehen. Als Rechts gilt alles, was sich von ihnen und ihren Dogmen unterscheidet und sich der alternativlosen Gleichheit der Lebensverhältnisse, des Denkens und Wollens in der einen Menschheit widersetzt. Es gibt für sie keine Alternativen zu der von ihnen angestrebten universalen Einfalt, in der die Geschichte an ihr Ziel und an ihr Ende gelangt. Deshalb muß unnachsichtig gegen solche systemfremden Elemente vorgegangen werden, die von besonderen Formen reden, vom konkreten Menschen und von der Freiheit ungeheuerlichen Gefühlen, die den ort- und zeitlosen Menschenfreunden unheimlich sind. Sie kennen, wie sie immer beteuern, nur Menschen, die einander nicht Feind sind. Doch wer ihnen nicht folgt, erweist sich als Feind, der behämpft und umerzogen werden muß, um überhaupt ein wahrer Mensch zu werden.  






Dr. Eberhard Straub ist habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor