© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Assistierte Reproduktion und Pränataldiagnostik: Das Kind ist kein Produkt
Gezeugt, nicht geschaffen
Manfred Spieker

Um Kinder zu zeugen, sagte der 2018 verstorbene Philosoph Robert Spaemann, brauche man keinen Grund. Einen hinreichenden Grund für eine Zeugung könne es nicht geben. Würden Kinder von ihren Eltern Rechenschaft für ihre Zeugung verlangen, würde er mit dem Dichter Gottfried Benn antworten: „Glaubt doch nicht, daß ich an euch dachte, als ich mit eurer Mutter ging. Ihre Augen wurden immer so schön bei der Liebe.“ Und er würde fortfahren: „Du verdankst dein Leben nicht deiner Mutter und mir, sondern der gleichen Natur, der auch ich das meine verdanke und der der Schöpfer die Entstehung neuen Lebens anvertraut hat.“ Menschenwürdige Entstehung ist mithin die Folge einer Beziehung, nicht das Produkt einer Herstellung. Deshalb bezeichnet, so Spaemann, der Satz im Großen Glaubensbekenntnis der Christenheit „‘Genitum non factum’ – ‘gezeugt, nicht gemacht’ – nicht nur die Weise des Ursprungs des göttlichen Logos, sondern auch die einzig angemessene Weise der Entstehung jedes Menschen“.

Die assistierte Reproduktion unterscheidet sich von der Zeugung dadurch, daß sie eine zweckrationale Handlung und nicht die natürliche Folge einer Beziehung ist. Sie macht das Kind zum Produkt des Reproduktionsmediziners und verwandelt es so aus einem Subjekt und einem personalen Gegenüber mitmenschlichen Umgangs in ein Objekt technischen Machens. Sie überschreitet die Grenze zwischen Zeugen und Machen. Der Reproduktionsmediziner ist der eigentliche Demiurg, während die Eltern nur das Rohmaterial liefern.

Auch wenn das auf diesem Weg erzeugte Kind als Geschöpf und Ebenbild Gottes wie jeder andere Mensch geachtet werden muß, bleibt die künstliche Befruchtung doch, so Spaemann, „ein schweres Unrecht“, ein in sich schlechter Akt, weil er die fundamentale Gleichheit der Menschen verletzt, auf welcher die universale Solidarität der Menschen beruht. Den Machern stehen die Gemachten, den Planern die Geplanten gegenüber. Dies verstößt, um einen Ausdruck von Jürgen Habermas aufzugreifen, gegen „die Symmetrie der Beziehungen“, die eine wesentliche Voraussetzung der Menschenwürde ist. Nicht erst die Präimplantationsdiagnostik, der gegenüber Habermas diesen Vorwurf erhebt, sondern schon die assistierte Reproduktion selbst verletzt die fundamentale Gleichheit der Menschen, die erfordert, daß wir alle den gleichen Ursprung haben und nicht die einen die Geschöpfe der anderen sind.

Die Abkoppelung der Weitergabe des Lebens vom Zeugungsakt hat in mehrfacher Hinsicht fatale Konsequenzen. Sie eröffnet den Weg zu Experimenten und zum Handel mit Embryonen, zu Leihmüttern und zur Rechenschaftspflicht der Eltern für die Eigenschaften ihrer Kinder. Der Harvard-Philosoph Michael Sandel hat darauf hingewiesen, daß sich die Verantwortung, die den Eltern durch die assistierte Reproduktion und die Versuchung zu einer genetischen Optimierung aufgeladen wird, in erschreckende Dimensionen ausdehnt: „Eltern werden verantwortlich dafür, die richtigen Eigenschaften ihrer Kinder ausgewählt oder nicht ausgewählt zu haben.“

Sandel plädiert, wie Spaemann, für die natürliche Zeugung und dafür, „Kinder als Gabe zu schätzen, sie zu akzeptieren, wie sie sind, nicht als Objekte unseres Entwerfens oder als Produkte unseres Willens oder als Instrumente unserer Ambitionen“. Auch Habermas prognostizierte diese unerträgliche Ausdehnung elterlicher Verantwortung: Jede Person könne, „ob sie nun programmiert worden ist oder nicht, fortan die Zusammensetzung ihres Genoms als Folge einer vorwerfbaren Handlung oder Unterlassung betrachten“. Eine weitere fatale Konsequenz der Abkoppelung der Weitergabe des Lebens vom Zeugungsakt sind die verwaisten Embryonen, die vor ihrer Beseitigung „nützliche Dienste“ für die Forschung und für die Gesundheit leisten sollen.

Aber nicht erst die assistierte Reproduktion macht aus dem Kind ein Produkt. Auch in der auf die natürliche Zeugung folgenden Pränataldiagnostik gibt es eine Entwicklung, die das Kind zum Produkt macht – mit fatalen Folgen für die Schwangere. Dabei ist vorgeburtliche Diagnostik nicht an sich das Problem. Sie ist legitim, solange sie das Leben und die Integrität des Embryos achtet und auf seinen individuellen Schutz oder seine individuelle Heilung ausgerichtet ist, solange sie es mithin möglich macht, den vorgeburtlichen Zustand des Embryos zu erkennen und bei Bedarf therapeutische Maßnahmen zu ergreifen. Darin sind sich die Bundesärztekammer, die Weltgesundheitsorganisation und die christlichen Kirchen einig. Die Pränataldiagnostik ist, so die Weltgesundheitsorganisation in ihren Empfehlungen 1996, nur „im Interesse des Fötus“ durchzuführen.

Ganz anders ist die Pränataldiagnostik jedoch zu bewerten, wenn sie nicht im Interesse des Fötus, sondern im vermeintlichen Interesse der Gesellschaft durchgeführt wird. Die Krankenkassen gehen davon aus, daß es wesentlich kostengünstiger ist, ein flächendeckendes Embryonen­screening durchzuführen als die durchschnittlich erwartbare Zahl an Menschen mit Trisomie 21 zu versorgen. Seit ihrer Einführung 1970 hat sich diese Diagnostik zu einem Selektionsinstrument entwickelt, das zu einer tödlichen Gefahr für den Embryo geworden ist. Der seit 2021 von den Krankenkassen bezahlte nicht-invasive Pränataltest, bei dem mittels einer Blutentnahme nach den Trisomien 13, 18 und 21 gefahndet wird, um die Embryonen mit positivem Befund abzutreiben, ist nur der jüngste Schritt in diese Perversion der Pränataldiagnostik.

Die Pränataldiagnostik verändert die Schwangerschaft. Schwangere lassen sich in der Regel auf diese Untersuchungen ein, weil sie davon ausgehen, daß diese dazu beitragen, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Daß der häufigste Weg, um eine Gefahr für die Gesundheit des Kindes abzuwehren, dessen Abtreibung ist, wird in der Regel verschwiegen oder hinter Begriffen wie „Prävention“, „prophylaktische Maßnahmen“, „Verhinderung genetischer Anomalien“ oder „Einleitung der Geburt“ verschleiert.

Die Pränataldiagnostik verwandelt die Schwangerschaft von einer natürlichen Lebensphase in einen Risikozustand, der durch ständige Überwachung zu kontrollieren ist. Sie verzögert den inneren Dialog der Schwangeren mit dem Kind. Die Schwangere empfindet Schwangerschaft nicht mehr als einen passiven Zustand des Geschehenlassens und des natürlichen und geschützten Heranwachsens des Kindes im Mutterleib, sondern als Produktionsprozeß, der ihr die Illusion einer aktiven Produzentin vermittelt. Was in einer Schwangerschaft zählt, ist das Produkt und seine Qualität und weniger die Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind.

„Ein Leben im Wahn der Optimierung. Von Anfang an. Um jeden Preis. Eltern bekommen diesen Druck besonders zu spüren. Vollkommene Eltern von vollkommenen Kindern sollen sie sein“, so Monika Hey in ihrer erschütternden Abrechnung mit der Pränataldiagnostik, bei der sie selbst zu einer Abtreibung gedrängt wurde: „Mein gläserner Bauch. Wie die Pränataldiagnostik unser Verhältnis zum Leben verändert“ (München 2012). Das behinderte Kind, das die Schwangerschaft übersteht und zur Geburt gelangt, gilt als Versäumnis der Frau. Damit wird der Schwangeren die Verantwortung für die Gesundheit des Kindes zugeschoben. Die Geburt eines behinderten Kindes zu verhindern, gilt als kategorischer Imperativ. Das in Deutschland offenkundig hohe „Qualitätsbewußtsein“ hat in Verbindung mit den Urteilen des Bundesgerichtshofes zur Arzthaftung eine fatale Folge: 60 bis 75 Prozent der Schwangerschaften werden zu Risikoschwangerschaften erklärt, während es in vergleichbaren Ländern wie den Niederlanden nur 25 Prozent sind. Für die Mutter bleibt die Schwangerschaft eine Schwangerschaft auf Probe, bis die Pränataldiagnostik deren Unbedenklichkeit bescheinigt. Zu Recht ist deshalb von einer Enteignung der Schwangerschaft durch die Medizin und von ihrer Pathologisierung die Rede.

Zur Veränderung des Schwangerschaftserlebens durch die Pränataldiagnostik gehört eine eigenartige Dialektik von Selbstbestimmung der Schwangeren und Verlust dieser Selbstbestimmung. Die Schwangere begibt sich in die gynäkologische Praxis, um die allgemeine Schwangerenvorsorge wahrzunehmen – aus eigenem Entschluß und in der Überzeugung, daß dies gut sei für ihr Kind. Ihr Mutterpaß fordert sie auf, die Ratschläge des Arztes zu befolgen und die ihr gebotenen Möglichkeiten zu nutzen, um sich und ihrem Kind „Sicherheit“ zu verschaffen. Die Untersuchungsspirale, in die sie durch die Ärzte gedrängt wird, bis sie eine Entscheidung über Leben oder Tod des Kindes treffen muß, beraubt die Schwangere zunehmend ihrer Selbstbestimmung.

Der Schwangeren wird die Last der Entscheidung oft erst bewußt, wenn sie zwischen Leben und Tod „wählen“ soll. Daß ihre Entscheidung, egal in welche Richtung sie ausfällt, zu Schuldgefühlen führt, sei es, weil sie sich vorwirft, Krankheit und Leid nicht verhindert zu haben, sei es, weil sie sich vorwirft, ein Kind nur wegen einer Behinderung getötet zu haben, ist moraltheologisch ein Irrtum. Ein Kind zu töten, ist ein gravierender Verstoß gegen ein unbedingtes Unterlassungsgebot, nämlich Unschuldige nicht zu töten. Krankheiten und Leiden zu vermeiden, ist ein verständlicher Wunsch jeder Mutter, mithin ein Handlungsgebot, aber nur soweit der Mensch die Macht hat, sie durch sein Handeln zu vermeiden. Eine Schwangere, die sich nach einem pathologischen Befund der Pränataldiagnostik zu ihrem kranken oder behinderten Kind bekennt und dessen Geburt gegen alle Widerstände durchsetzt, wird nicht schuldig. Sie beachtet das Unterlassungsgebot, dem im Falle einer Kollision mit einem Handlungsgebot immer der Vorrang zukommt. Sie weiß, daß das Kind kein Produkt ist, das man zurückgeben kann, sondern ein Mensch mit Würde und dem Recht auf Leben.





Prof. em. Dr. Manfred Spieker, Jahrgang 1943, lehrte von 1983 bis 2008 Christliche Sozialwissenschaften am Institut für katholische Theologie an der Universität Osna­brück. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Reproduktionsmedizin und Eugenik („Auf der Wasserscheide“, JF 39/19).