© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Olle Kamellen aus Pankow
In der Interpretation des Angriffs auf die friedliebende Sowjetunion 1941 laufen linke Historiker in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ zu großer Form auf
Oliver Busch

Zum 22. Juni 2021, dem 80. Jahrestag des „deutschen Überfalls auf die Sowjetunion“, gab das einstige Zentralorgan der SED-Historikerschaft, die Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, unter Federführung des emeritierten Antisemitismus-Forschers Wolfgang Benz (TU Berlin) ein Themenheft (6/2021) heraus. Neue Fakten oder auch nur frische Deutungen der alten finden sich darin nicht. Unterm Strich repetieren die Beiträger die Quintessenz der herrschenden Meinung über den „Rußlandkrieg“: Die Wehrmacht holte im Sommer 1941 nicht zum „Präventivschlag“ aus, sondern habe die arglose Sowjetunion heimtückisch „überfallen“. So weit, so bekannt. Wirklich erstaunlich ist aber, mit welcher Dreistigkeit hier die Pankower Bauernfängerei von der „friedliebenden Sowjetunion“ als Opfer „faschistischer Aggression“, so wie sie derzeit noch die Geschichtspolitik in Putins Rußland dominiert, in der „antifaschistischen“ DDR 2.0 fröhliche Urstände feiert.

Wer mit einem solchen Vorverständnis ausgestattet ist, dem erscheint es überflüssig, sich mit den Einzelheiten der deutsch-sowjetischen Beziehungsgeschichte zwischen dem 23. August 1939, als Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop in Moskau mit Stalin einen Nichtangriffspakt aushandelte, und dem 22. Juni 1941 zu beschäftigen, an dem die Rote Armee mit 145 Schützen-, 25 motorisierten Schützen-, 49 Panzer-, 6 Kavalleriedivisionen allein an ihrer Westgrenze aufwartete. Kein Beitrag erwähnt daher die mit dem Molotow-Besuch in Berlin im November 1940 sich enthüllende Moskauer Erpressungspolitik. Niemand verliert ein Wort über Stalins „Wanderung nach Westen“  und deren systemimmanent-blutige Folgen. Nur bei Uwe Neumärker (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) blitzt kurz auf, was diese Expansion bedeutete: vom Baltikum über Ostpolen bis Rumänien  – überall zogen mit der Roten Armee 1939/40 „Terror und Mord, Enteignung und Deportation“ ein. Allein am ersten Tag der Okkupation der baltischen Staaten, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1940, verhaftete der NKWD 50.000 – auch jüdische – Bürger Litauens, Lettlands und Estlands, um sie als Regimegegner in Güterzügen nach Sibirien zu verschleppen.

Wie Wolfram Wette, von 1971 bis 1995 zur „Roten Zelle“ im Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg gehörend, der sich hier der „NS-Propaganda zur Rechtfertigung des Überfalls und deren Fortsetzung im Kalten Krieg“ widmet, vor diesem Hintergrund auf den Gedanken kommt, die „Bösartigkeit“ der Moskauer Machthaber sei nur ein „antibolschewistisches Zerrbild“, bleibt sein Geheimnis. Ebenso die Begründung seiner These, der NS-Antibolschewismus lebte in antikommunistischen Feindbildern des Kalten Krieges fort, die das Ost-West-Verhältnis vergifteten, obwohl doch die lediglich ihr Sicherheitsbedürfnis stillende UdSSR auf Stalins Pfaden wandelte und rein „defensive“ Außenpolitik trieb.

Von der Sowjetunion ging auch für Wolfgang Benz „keine drohende Gefahr“ aus, und für Bernward Dörner (TU Berlin) ist das gesamte „bolschewistische Bedrohungsszenario“ der Nationalsozialisten überhaupt nichts anderes als eine „Wahnidee“. Am weitesten treiben es mit solcher Psychologisierung welthistorischer Prozesse Gudrun Hentges und Gerd Wiegel in ihrer Einlassung zum „Überfall auf die Sowjetunion in der Geschichtspolitik der Neuen Rechten“.

Lauter wegen politischer Belastung „abgewickelte“ DDR-Historiker

Ihnen ist schon die „aggressive Kriegspolitik Polens“ ein bloßes „Konstrukt“ Stefan Scheils, des „‘Vorzeigehistorikers der AfD’“ (Andreas Wirsching). Und die Härte der Kriegführung in Rußland resultiert für sie keineswegs aus frühen, im deutschen kollektiven Gedächtnis präsenten „Schreckbildern“ (Ernst Nolte) von der „Brutalität der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg“, die ja nichts als ein Phantasma „faschistischer Freikorpsliteratur“ gewesen sei. Was sich nur in kindlicher Unkenntnis von Peter Scheiberts monumentaler Rekonstruktion des enthemmten Terrors, wie sie ihn die Bolschewisten vom ersten Tag ihrer „Oktoberrevolution“ an praktizierten („Lenin an der Macht“, 1984), behaupten läßt.

Bei den Mittfünfzigern Hentges und Wiegel treten denn auch die trefflich harmonierenden biographischen und weltanschaulichen Determinanten solcher Apologie des zum unschuldigen Opferlamm von 1941 stilisierten kommunistischen Gulag-Regimes am sinnfälligsten hervor. Beide sind sie keine Historiker, sondern Politologen, wurden promoviert von Reinhard Kühnl (1936–2014), einem  Wärter des DKP-Leuchtturms an der Marburger Universität. Beide verdanken ihre Karrieren linken Netzwerken: Hentges begann als Assistentin des Kölner „Rechtsextremismus-Experten“ Christoph Butterwegge, der sie 2013 habilitierte und mithalf, sie 2017 auf einem Lehrstuhl für „Bildungspolitik und politische Bildung“ in Köln zu installieren, wo sie ihre branchenüblichen Steckenpferde reitet: Migration, Gender, Rassismus, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Wiegel, Fachreferent für „Rechtsextremismus und Antifaschismus“ in der Fraktion Die Linke im Bundestag, ist hingegen zumeist so ehrlich, seinen Pamphleten nicht das Deckmäntelchen der Wissenschaft umzuhängen.

Der schreibselige Wiegel hat diesen Rundumschlag gegen „Präventivkrieg und Geschichtsrevisionismus“ jüngst zweitverwertet, reduziert auf „Die Geschichtspolitik der AfD“. Veröffentlicht ist dieses, den SED-Jargon akzentfrei sprechende Agitprop-Stück in einem kongenialen Kontext, dem Sammelband „Das faschistische Echo der Vergangenheit. Lehren von Weimar für linke Politik heute“ (Hamburg 2021). Dessen Herausgeber sind zwei Fossile marxistisch-leninistischer „Tölpelvisionen“ (Gottfried Benn) von Zeitgeschichte, Ludwig Elm, Jahrgang 1934, und Manfred Weißbäcker, geboren 1935. Über Elm, der sich als Experte für den „Konservatismus in der BRD“ als Fortsetzer „reaktionär-faschistischer“ Bewegungen seit 1789 profilierte, informiert Lothar Mertens’ „Lexikon der DDR-Historiker“ (2006) mit löblicher Liebe zum Detail: 1952 Eintritt in die SED, 1956 Diplom-Lehrer Marxismus-Leninismus, 1959 Mitglied der FDJ-Kreisleitung Jena-Stadt, 1964–1978 Mitglied der SED-Universitätsparteileitung Jena, zugleich Mitglied SED-Kreisleitung Jena-Stadt, 1971–1981 Kulturbund-Abgeordneter in der Volkskammer der DDR, von 1971 bis zu seiner „Abwicklung“ 1991 Professor für „Wissenschaftlichen Sozialismus“, 1994 bis 1998 für die PDS im Bundestag.

Nicht ganz so zentnerschwer „belastet“ nimmt sich Weißbeckers Karriere aus: SED 1953, 1957 hauptamtlicher Sekretär der Hochschulgruppe Jena der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, 1962 promoviert mit der lokalhistorischen Klitterung „Die KPD im Kampf gegen die faschistische Diktatur in Thüringen 1933–1935“, 1968 in Jena Dozent für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, am Ort aufgestiegen zum Professor, 1992 ebenfalls als wissenschaftlich nicht hinreichend qualifiziert „abgewickelt“, als Ruheständler zwangsneurotisch die alten Themen „Rassismus, Faschismus, Antirassismus“ abgrasend. Wenn Wiegel, Hentges & Co. als EnkelInnen der Altstalinisten Elm und Weißbäcker nun deren grobkörnige Geschichtsmären für die SED-Nachfolgepartei „Die Linke“ aufkochen, ist Bertolt Brecht zu zitieren: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“