© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Leben unter Vorbehalt
Älter als der Nahostkonflikt: Den Ursachen des muslimischen Antisemitismus auf der Spur
Daniel Körtel

Es ist wie in einem System kommunizierender Röhren: Kommt es im Nahen Osten zu Gewalttätigkeiten zwischen Israel und den Arabern, steigt die Temperatur in den westeuropäischen Staaten mit ihrem hohen Migrantenanteil. So auch im vergangenen Mai, als auch in Deutschland Tausende vorwiegend arabischer Herkunft gegen die israelische Militärpolitik demonstrierten. Nicht allein der Schlachtruf „Allahu Akbar“ wurde skandiert; auch Parolen wie „Kindermörder Israel“ waren zu hören. Diese aggressiv aufgeladenen Demonstrationen verursachten bei vielen ein Unbehagen. Von vielen Medien und Politikern wurden jedoch immer noch warnende Stimmen vor einem aus dem islamischen Kulturraum importierten Antisemitismus mit erstaunlichen Erklärungen gekontert. So sei der europäische Antisemitismus erst ab dem 19. Jahrhundert in den arabischen Raum gelangt und stelle somit ein kolonialistisches Phänomen dar.

Immer noch keine Übersetzung von Gilberts Werk ins Deutsche

Klarheit über die historischen Wurzeln des islamischen Antisemitismus könnte auch hierzulande „In Ishmael’s House“ des 2015 verstorbenen britischen Historikers Martin Gilbert bringen. Obwohl das Buch des jüdischstämmigen Gelehrten in Umfang und Detailfülle in der englischsprachigen Welt zum Standardwerk reifte, liegt erstaunlicherweise nach seinem Erscheinen 2011 eine deutsche Übersetzung nicht vor.

Die gemeinsame, problematische Geschichte von Juden und Muslimen beginnt bereits mit dem Aufstieg Mohammeds im sechsten Jahrhundert zum Religionsstifter des Islam. Neben dem Christentum erhielt Mohammed zahlreiche Inspirationen aus dem Judentum, das auf der Arabischen Halbinsel bereits stark verankert war. Doch sein eifriges Bemühen um die Anerkennung der Juden als Propheten Gottes lief ins Leere; war doch die Prophetenzeit für die Juden mit Maleachi im vierten vorchristlichen Jahrhundert abgeschlossen. Ihre teils spöttische Opposition zum Anspruch Mohammeds mußte zwangsläufig in ihm den Keim der tiefen Feindschaft setzen. Die Trennlinie, die er zwischen sich und den Juden legte, wurde am deutlichsten in seiner Abkehr vom Gebetsritual in Richtung Jerusalem zugunsten Mekkas.

Für ihre Verbindung zu Mohammeds heidnischen Feinden mußten die Juden am Ende einen tödlichen Preis bezahlen. Sein Sieg über den jüdischen Stamm der Quraizah endete mit der Hinrichtung aller wehrfähigen Männer, der Versklavung der Frauen und der Verteilung ihres Eigentums als Beute unter Mohammeds Kriegern. Der nachfolgende Feldzug gegen die Quraizah in der Oase Khaibar beendete schließlich die Existenz jüdischer Stämme in Arabien. Die Behandlung der überlebenden Juden wurde zum Präzedenzfall für die entsprechenden Scharia-Regularien, die später eroberte nichtmuslimische Völker betrafen. Sie erhielten als Dhimmis einen Schutzstatus, unter dem sie einerseits ihren Glauben weiter ausüben konnten. Dafür mußten sie fünfzig Prozent ihrer Ernte aus der Landwirtschaft der Oasen an die Eroberer abgeben. Das Land selbst wurde muslimisches Gemeindeeigentum. Mohammed befahl kurz vor seinem Tod schließlich die Vertreibung aller restlichen Juden aus Arabien.

Der Status des Dhimmis bot den Juden einen zweifelhaften Schutz vor Verfolgung, immer abhängig von den gegenwärtigen Launen ihrer muslimischen Herrscher. Die Diskriminierung fand eine noch erniedrigendere Ausweitung in der Verpflichtung, spezielle Kleidung zu tragen, dem Verbot Waffen zu tragen oder Pferde zu reiten. In Zeiten wachsenden Fundamentalismus nahm auch der Druck auf die Juden immer wieder zu. Konvertierten begegnete man mit Mißtrauen. Dennoch konnte sich auf der intellektuellen Ebene jüdisches und muslimisches Leben unter Beachtung der Rangunterschiede durchaus gegenseitig verbinden. Im Osmanischen Reich hielt dieser Status an, Juden paßten sich an ihr Leben unter Vorbehalt an. Dennoch weist Gilbert in seiner historischen Analyse immer wieder gewalttätige Übergriffe über die Jahrhunderte nach. Auch in anderen muslischen Gebieten, die nicht unter Kontrolle der Hohen Pforte standen, war das Los der Juden ähnlich. Noch 1912 kam es in der marokkanischen Stadt Fez zu einem Pogrom an der jüdischen Bevölkerung, dessen Opferzahl mit mehr als 60 Toten das Pogrom im russischen Kischinau neun Jahre zuvor, das weltweit Beachtung fand, übertraf.

Das 20. Jahrhundert schaffte mit dem Aufstieg des arabischen und jüdischen Nationalismus eine neue Dynamik im Verhältnis zwischen Juden und Muslimen, ganz unabhängig von der aus Europa einsetzenden zionistischen Einwanderung nach Palästina in den ersten zwei Jahrzehnten. In fast allen muslischen Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas wurde die Situation der jüdischen Minderheiten unter den Regimen immer unhaltbarer. Nach der Gründung Israels führte dies innerhalb weniger Jahre zu einem regelrechten Exodus von rund 850.000 Flüchtlingen aus dem Orient und Nordafrikas.


Bild: Mohammed siegt in der Schlacht von Badr 624 n. Chr. gegen den Stamm der Quraisch, persische Miniatur: Das Ende der Existenz jüdischer Stämme in Arabien

Martin Gilbert: In Ishmael‘s House: A History of Jews in Muslim Lands, Yale University Press, New Haven und London 2011, broschiert, 424 Seiten, antiquarisch etwa 20 Euro