© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Moralistische Ratschlaggeber
Der Historiker Sönke Neitzel über das Versagen der deutschen Syrienpolitik
Peter Seidel

Selten gibt es Bücher, die wie im Brennglas gebündelt die Probleme ihres Themas so klar und deutlich benennen, daß man als Rezensent sich am liebsten auf eine Aufzählung von Zitaten aus dem Buch beschränken würde. Das neue Buch von Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna über Deutschlands Rolle im Syrienkrieg ist so ein Buch.
Die beiden Wissenschaftler vom Historischen Institut der Universität Potsdam machen schon mit dem Titel „Blutige Enthaltung“ ihrer ersten Gesamtdarstellung der deutschen Syrienpolitik seit dem Beginn des Bürgerkrieges 2011 das Grundproblem dieser Politik deutlich: die Politik eines Landes, das sich schlicht weigert, seiner „politischen Verantwortung im internationalen Krisenmanagement gerecht zu werden“ und stattdessen in „selbstgerechter Ratschlaggeberei von der Seitenlinie“ verharrt. Ein ernüchterndes Fazit jenseits ritualisierter Beschwörung von Multilateralität und Moralismus.
Beginnend mit dem arabischen Frühling und der Intervention westlicher Mächte in Libyen 2011 über den Beginn des Syrienkonflikts, die anhebende Flüchtlingskrise und das schließliche Ende des „Islamischen Staates“ hin zum Stellvertreterkrieg  um die Nachkriegsordnung geht die Darstellung mit dem krönenden Schlußpunkt der abschließenden Bewertung deutscher Politik – als „Beitrag zu der häufig geforderten kritischen Debatte über die deutsche Außen-und Sicherheitspolitik“, wie es maliziös heißt, eine Fallstudie sozusagen mit Syrien als Beispiel. Das Buch liefert keine Kriegsgeschichte. Militärische Operationen stehen nur dann im Vordergrund, soweit sie international politische Bedeutung erlangten.

Die deutsche Politik wird dabei immer wieder gespiegelt an der Politik Großbritanniens, Frankreichs, der USA, aber auch kleinerer Länder wie Dänemark, die oft ein deutlich frühzeitigeres höheres und robusteres Engagement als die „Zen-tralmacht Europas“ bewiesen. Dies gilt auch für die Entstehung der Flüchtlingskrise 2015, die auf eine „überraschte, bestürzte und vor allem überforderte Bundesregierung“ traf, obwohl inzwischen vier Jahre seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges vergangen waren: „Klar erkennbar war dabei der Anstieg der Fluchtbewegung ab 2013“, also wiederum Jahre vor ihrem Höhepunkt zwei Jahre später, gerade „in Anbetracht der deutlichen Warnsignale vor einer krisenhaften Zuspitzung“. Und weiter: „Insbesondere die chaotischen Zustände im Herbst 2015 sowie der daraus resultierende Eindruck, der deutsche Staat habe teilweise die Kontrolle verloren, wären vermeidbar gewesen.“
Vorstellung über die Ziele des Einsatzes war nicht vorhanden

Was im speziellen für die Flüchtlingskrise gilt, gilt auch für die deutsche Politik insgesamt. Das Ergebnis der vorliegenden Fallstudie ist so eindeutig wie vernichtend. Einige Zitate: „Eine klare Vorstellung über die Ziele des Einsatzes scheint auch in Sicherheitskreisen nicht vorhanden zu sein. (…) Oder welche Regierungspartei diskutiert ergebnisoffen deutsche Ambitionen in der internationalen Politik und militärpolitische Themen? Die Fraktionsvorsitzenden von SPD und CDU versuchen im Gegenteil alles, um solche Debatten zu unterbinden. Eine Folge davon ist, daß sich etwa der Verteidigungsausschuß des Bundestages mit den grundlegenden Themen der Sicherheitspolitik längst nicht mehr befaßt.“ Mit Auswirkungen auch auf andere aktuelle Fragen: „Wie soll eine europäische Armee funktionieren, wenn Deutschland immer mehr als unsicherer Kantonist auffällt, aktiveres Krisenmanagement ablehnt und eine gemeinsame europäische Haltung erschwert?“ Und dann prägnant zum Schluß: „Bislang wird die Haltung Deutschlands von den engsten Partnern zähneknirschend hingenommen: Solange Berlin nicht offen die Politik des Westens obstruiert, sind diese zufrieden. Die Bundesrepublik gerät dadurch aber immer mehr in die Rolle des ungeliebten reichen Onkels, der zwar dazukommen darf, aber nur weil irgend jemand die Zeche zahlen muß.“ Alles null Problemo, denn „allerdings ist bisher nicht zu erkennen, daß das Kanzleramt ein Interesse hätte, auf (Reform-)Vorschläge einzugehen“. Kürzer kann man den Dilettantismus deutscher Außenpolitik nicht zusammenfassen!  

Zentrales Ereignis im Syrienkrieg war schließlich die Eröffnung der Kämpfe um die Nachkriegsordnung, geprägt durch nahe und fernere Anrainer wie Rußland, Iran, die Türkei, nachdem sich mit den USA der letzte ernstzunehmende westliche Akteur aus dem Lande zurückgezogen hatte. Dies galt auch für „die traurige Realität der gemeinsamen europäischen Außenpolitik“. Die wichtigste Frage sei dabei aber „nicht einmal debattiert“ worden: „Wie hätte sich Deutschland positionieren sollen, um eine geschlossene europäische Haltung zu erreichen?“ Und da redet man in Berlin und anderswo immer noch über die Notwendigkeit einer Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips und die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik in Europa. Was hätte dies wohl geändert: nichts! Und nichts spricht dafür, daß dies morgen anders wäre. Mehrheitsentscheidungen hin oder her. Das Problem liegt in Berlin, und dort wird es auch noch länger liegenbleiben, vermutlich ungestört. Und es läßt sich so beschreiben: „Die Deutschen haben meist eine klare Meinung, was richtig und was falsch ist. Selbst handeln wollen sie aber nicht.“

Am Fallbeispiel Syrien beschreiben Neitzel und Scianna auf knapp 160 Seiten ein deutsches Mäandern zwischen Maulheldentum und Ablaßzahlungen. Dies erinnert an den Umgang mit der Euro-zone und ihrem langsamen Abgleiten in die Transferunion. Und es erinnert wie auch der trefflich gewählte Titel an eine alte Erkenntnis, die Leser von Erich Kästners „fliegendem Klassenzimmer“ noch aus ihrer Jugendzeit kennen können: „An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“ Der neunmalkluge Sebastian Frank mußte ihn zur Strafe fünfzigmal abschreiben. Ob es geholfen hat, darüber schwieg der Dichter.
Daß bei einem anstehenden Crewwechsel im völlig losgelösten Raumschiff Berlin dieser außenpolitische Dilettantismus überwunden werden könnte, ist sehr fraglich.

Sönke Neitzel, Bastian Matteo Scianna: Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg. Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2021, broschiert, 160 Seiten, 18 Euro