© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Ideologische Scheuklappen
Das Aus für deutsche AKWs scheint unabänderlich / Weltweit wird weiter auf Kernkraft gesetzt
Marc Schmidt

Nirgendwo sei Strom „so teuer wie in Deutschland. Das ist das Ergebnis von ideologischer Energiepolitik. Das belastet die privaten Haushalte, erhöht die Produktionskosten, kostet Arbeitsplätze und beschleunigt die De-Industrialisierung. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist umweltpolitisch und auch technologisch verheerend“, warnt eindringlich das gemeinsame Wahlprogramm von CDU und CSU. Der beschlossene Atomausstieg bedrohe „zudem die deutsche kerntechnische Industrie, bislang technologisches Aushängeschild Deutschlands mit großem Exportpotential“.
Und weiter heißt es: „Vor allem brauchen wir einen breitgefächerten Energiemix aus Erdöl, Kohle, Gas, Kernenergie sowie Biomasse, Wasser-, Wind- und Sonnenenergie.“ Die AKW-Laufzeit müsse „sich ausschließlich an der Gewährleistung des größtmöglichen Sicherheitsniveaus jeder Anlage orientieren“. Man wolle „eine offene Energie-Forschung, die nichts ausklammert. Ideologische Scheuklappen werfen Deutschland im internationalen Wettbewerb zurück“, warnen die Unionsparteien unmißverständlich. Doch das war im Bundestagswahlkampf 2005.

Sechzehn Merkel-Regierungsjahre später überbieten sich die Bundestagsparteien in schrillen Maßnahmen bei der Atom- und Klimahysterie. Nur die AfD hält 2021 noch an den Unionsideen fest: „Deutschland hat die weltweit saubersten und effizientesten Kohlekraftwerke. Daher lehnen wir die Ausstiegspläne aus der Kohleverstromung ab“, heißt es im aktuellen Wahlprogramm „Deutschland. Aber normal.“ Die Laufzeit der verbliebenen sechs AKWs müsse „sich nach der technischen Nutzungsdauer und ökonomischen Kriterien richten“.

Zudem wird „die Wiedereinrichtung von Kernforschungszentren und umfangreiche Beteiligung an internationalen Kernforschungsprojekten zur Sicherstellung des notwendigen Wissens zum Betrieb und Bau von Kernreaktoren, zur Erforschung fortschrittlicher Reaktorkonzepte der Generation III+ und IV sowie von Brutreaktoren und Fusionsenergie“ gefordert – eine klarere Absage an die deutsche Energiewende geht nicht. Und die AfD steht damit nur im Bundestag allein da, denn weltweit wurden seit 1970 612 AKWs gebaut. Weitere 55 befinden sich aktuell im Bau, 112 sind in der konkreten Planung und Bauvorbereitung (JF 17/20).

Derzeit sind 443 AKWs in 34 Ländern in Betrieb – mit einer Gesamtleistung von 394.233 Megawatt (MW). Sie lieferten 2020 mit einer Produktionsmenge von 2.610 Terawattstunden (TWh) ein Zehntel der weltweiten Stromproduktion – in der EU waren es 2020 sogar 26 Prozent. 169 meist ältere Reaktoren sind stillgelegt oder bereits durch neue Blöcke am Standort ersetzt. Somit sind 88.322 MW wieder vom Netz gegangen, davon 18.192 MW in 26 Reaktoren in Deutschland. Die verbliebenen sechs deutschen AKWs mit 8.113 MW werden spätestens Ende 2022 vom Netz gehen. Die aktuellen Reaktortypen nutzen die bei der Kernspaltung freigesetzte Wärme zur Erzeugung von Wasserdampf, welcher dann eine Turbine zur Stromgewinnung antreibt. Dabei wird die Nutzbarkeit des verwendeten Urans zunehmend schlechter, die Brennstäbe müssen ausgetauscht werden, entweder zur Anreicherung oder zur Endlagerung.
Mehr Radioaktivität im Kampf gegen den globalen Klimawandel?
Die in Deutschland von der Anti-Atom-Bewegung verteufelten Brutreaktoren (Stichwort: das Aus für den Schneller Brüter im niederrheinischen Kalkar 1991) zeichnet aus, daß sie bei ihrer Nutzung mehr spaltbares Material in Form von Uran und Thorium gewinnen als sie verbrauchen. Die unterschiedlichen Systeme sind die Grundlage fast aller in Planung oder im Bau befindlichen neuen Kraftwerke der vierten AKW-Generation. In Rußland werden Brutreaktoren auch dafür eingesetzt, verbrauchte Brennelemente anzureichern sowie das Material veralteter Atomsprengköpfe für eine zivile Nutzung zu recyceln.

Die modernen AKWs werden durch das 2001 gegründete Generation IV International Forum (GIF) erforscht und projektiert. GIF-Mitglieder sind neben den fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern auch Nicht-Atommächte wie Argentinien, Australien, Brasilien, Japan, Kanada, die Schweiz, Südafrika und Südkorea sowie über Euratom die EU. Die GIF-Staaten forschen an drei Brutreaktortypen, die sich hinsichtlich der Kühlung und Abschirmung des Spaltmaterials durch Blei, Natrium oder Helium/Keramik unterscheiden. Hinzu kommt die ursprünglich deutsche Idee des Hochtemperaturreaktors (HTGR; „Kugelhaufenreaktor“), der aktuell in Prototypen realisiert wird.

Die größten Erfolgsaussichten hat der thoriumbasierte Flüssigsalzreaktor. Dieser hat einen sehr geringen Wasserverbrauch. Ende September soll ein erstes Exemplar in China in den Dauerbetrieb gehen. Ein weiterer Vorteil dieser Technik ist, daß die Gefahr von Wasserstoffexplosionen oder des Austretens radioaktiver Dämpfe, wie etwa beim Fukushima-GAU geschehen, entfällt. Die Kühlung durch Flüssigsalz erhärtet bei einem Ausfall aller Systeme und ummantelt dabei das radioaktive Material. Das vom GIF noch nicht unterstützte und in Berlin entwickelte Dual-Fluid-Reaktor-Projekt (JF 6/20) hat seinen Firmensitz nun in Kanada.

Auch an der Kernfusion wird weiter gearbeitet. Während das europäische System ITER nach erheblichen Verzögerungen nun 2030 in der Fertigstellung des Versuchsreaktors münden sollen, sind China und die USA schon viel weiter (JF 21/21). Alle Ansätze beziehen sich auf den in Rußland entdeckten Tokamak-Ansatz, durch Druck und extreme Temperaturen Wasserstoffplasma zu erzeugen, in dem Wasserstoffatome wie in der Sonne verschmelzen. Die Herausforderung für die Systeme besteht in den extremen Temperaturen, die erreicht und dann konstant gehalten werden müssen, da der Explosionsdruck der Sonne fehlt.

Den Chinesen ist es inzwischen gelungen, das Plasma für fast zwei Minuten auf 120 Millionen Grad Celsius zu erhitzen. Die Temperatur wurde auf 160 Millionen Grad gesteigert und konnte 20 Sekunden stabil gehalten werden. 2022 soll eine Temperatur von 200 Millionen Grad erreicht werden, welche in den folgenden Jahren bis zu einer Woche stabil gehalten werden soll. Bis 2050 sollen die ersten Fusionsreaktoren ans chinesische Stromnetz gehen. Die entsprechende Meldung erschien übrigens am gleichen Tag, an dem die Grünen 1.000 Euro an Subventionen für private Lastenfahrräder versprachen. Die USA, die ihre jahrzehntelange Erfahrung mit Wasserstoffbomben nutzen können, wollen bereits 2035 kleine Fusionsreaktoren ans Netz bringen – mit dem Argument „CO2-frei“: Denn der von Union, SPD und Grünen gern zitierte Weltklimarat (IPCC) sieht Kernenergie seit 2014 als weitestgehend klimaneutral an.

Generation IV International Forum:

www.gen-4.org/

gifdual-fluid.com