© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/21 / 17. September 2021

Der Flaneur
Kino in der Stadt
Paul Leonhard

Auf meinem Gang vom Bahnhof in Richtung Pension gerate ich unvorhergesehen in eine Filmvorstellung. Am Rande eines nahezu komplett erhaltenen Gründerzeitplatzes ist eine große Leinwand aufgebaut, vor dieser vielleicht 100 Klappstühle, und da diese nicht ausreichen, hat sich das filmaffine Publikum hinter den Blumenrabatten auf den Rasen gelagert. Aus Stadtrucksäcken lugen Weinflaschen hervor. Die ersten schenken sich Gläser voll.
Aus den Mietshäusern schauen neugierig Männer mit freien Oberkörpern, Frauen haben es sich mit Kissen auf den Fensterbrüstungen gemütlich gemacht. Der Film spielt 1931, in einer Zeit, als die Häuser um den Platz – zumindest am Maßstab von Gebäuden – noch jung waren. Fast scheint es, als würden sie sich Geschichten aus jenen Jahren zuraunen, als würde die Kaiserbüste zwischen zweitem und dritten Stock ein wenig nach vorn rücken, um besser sehen zu können. Und auch die Figuren auf den Gebäuden scheinen sich zuzuzwinkern.

Der Filmheld hätte ein Taxi angehalten und die Frau noch vor dem Fluß eingeholt.

Das Publikum läßt sich mitunter vom Leinwandgeschehen ablenken: „Schau mal, das ist doch ...“ Große Teile des Streifens sind in dieser Stadt und ihrer Umgebung gedreht worden. Deswegen gibt es Gelächter und Beifall, wenn Freunde und Kollegen als Komparsen entdeckt werden. Längst sind wirkliche und Filmstadt eins geworden. Die hell erleuchtete Straßenbahn, die quietschend die Kurven um den Platz nimmt, ist die vierte Dimension.
Hinter mir sinnieren drei Mittdreißigerinnen, wie der Film ausgehen wird. Daß es mit der Geliebten ein gutes Ende nehmen wird, ist nach 120 Minuten Spielzeit auch jenen bewußt, die die Romanvorlage nicht gelesen haben.
Als die Leinwand nach drei Stunden ins Dunkel versinkt, ist es nach Mitternacht. Die Zuschauer packen zusammen. Ich laufe durch die fremde Stadt. Eine Radfahrerin touchiert mich fast. Stoppt dann nach einigen Metern und fragt mich nach einer Zigarette. Ich habe keine, und mir fällt auch sonst nichts ein. Sie schwingt ihren Hintern wieder in den Sattel und läßt sich in Richtung Fluß rollen. Ich schaue ihr hinterher. Der Filmheld hätte ein Taxi angehalten und sie noch vor dem Wasser gestoppt. Ich suche meine Pension.

Edle mannhafte Musik erquickt den Geist, ermutigt zaghafte Männer und regt sie zu großen Taten an.

Homer (ca. im 8. Jh. v. Chr. )