© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

„Zeit verpaßter Chancen“
Kanzlerdämmerung: Was bleibt von Merkel? Und wieso erfreut sie sich bis zuletzt so großer Beliebtheit? Thilo Sarrazin zieht Bilanz und reflektiert in seinem Band „Wir schaffen das“ die erste Kanzlerin und die Tücken politischen Wunschdenkens
Moritz Schwarz

Herr Dr. Sarrazin, Angela Merkel ist mit sich zufrieden – sie hinterlasse ein „starkes Land“. Stimmt das?

Thilo Sarrazin: In vielerlei Hinsicht ist Deutschland ein starkes Land. Aber daß Merkels 16 Regierungsjahre dem Land nicht gutgetan haben, stimmt leider auch. 

Sie hinterläßt das Land „stark“ also nicht wegen, sondern trotz ihrer Regierung?

Sarrazin: Deutschland ist stark durch Faktoren, die weitgehend unabhängig sind von der jeweiligen Regierung. Und Merkel hat dieses starke Deutschland nicht schwach, aber doch schwächer gemacht.

Inwiefern?

Sarrazin: Angela Merkel trifft zwar nicht die Schuld an den grundlegenden Konstruktionsmängeln des Euro, wohl aber hat sie die vertragswidrige Umwandlung der Europäischen Währungsunion in eine Schulden- und Haftungsunion nicht unterbunden. Ebenso hat sie den völlig verfehlten Atomausstieg und den verfrühten Ausstieg aus der Kohlekraft nicht verhindert. Sie hat so das Land den Risiken einer in ihren Details und ihrer Struktur völlig unklaren Energiewende ausgeliefert. Außerdem hat sie in großem Umfang kulturfremde Einwanderung zugelassen und damit einer grundsätzlichen gesellschaftlichen und kulturellen Verwandlung Deutschlands weiter Vorschub geleistet. Und schließlich hat sie in der Corona-Krise mit ihren tiefgreifenden Einschnitten in unsere Gesellschaft zunächst einige falsche Entscheidungen getroffen.  

Wie lautet also Ihre Bilanz? 

Sarrazin: Ich vergebe keine Schulnoten. Doch sehe ich Merkels Ära als eine Zeit verpaßter Chancen und wachsender Hypotheken, die die Zukunft unseres Landes belasten.

Laut Umfrage bewerten allerdings nur 30 Prozent der Deutschen die Arbeit der Kanzlerin als schlecht, 67 Prozent dagegen als gut. Im August waren es bei einer anderen Umfrage gar nur 14 gegenüber 84 Prozent.

Sarrazin: Die Bürger schätzen ihr ruhiges Auftreten und ihre Arbeitsdisziplin. Beides ist auch schätzenswert. Daß ich ihre politischen Leistungen negativ beurteile, steht auf einem anderen Blatt. 

Trotz dieser Bilanz würden die Deutschen, folgt man den Zahlen, wenn sie könnten, statt Scholz, Laschet oder Baerbock lieber wieder Merkel zur Kanzlerin wählen. Wie ist das zu erklären? 

Sarrazin: Zum einen hat sie es immerhin geschafft, ohne persönliche Skandale 16 Jahre im Amt auszuharren, während andere es nicht einmal fertigbringen, ihren Wahlkampf davon freizuhalten. Das ist auch schon eine Leistung! Zum anderen sehen die Bürger meist nur ihr unmittelbares Lebensumfeld und berücksichtigen nicht langfristige, tiefgreifende Tendenzen, die das ganze Land betreffen. Das können sie auch kaum, da die meisten in den entsprechenden Bereichen keine Fachleute sind. Allerdings werden die negativen Konsequenzen von Merkels Kanzlerschaft im Laufe der kommenden Jahrzehnte für die Bürger immer sichtbarer werden. So wie ich es im einzelnen immer wieder bis zum Überdruß geschildert habe.

Als Angela Merkel, eigentlich unvorhergesehenerweise und als Folge der Krise, in die die CDU durch einen Spendenskandal geraten war, im Jahr 2000 die Führung der Partei übernahm, hielten sie viele nur für eine Zwischenlösung. Sie auch? 

Sarrazin: Ich muß zugeben, daß ich mich damals nicht viel mit der Union beschäftigt habe, denn immerhin war sie kurz zuvor, bei der Wahl 1998, in die Opposition geraten. Und normalerweise ist die neue Regierung erst mal zwei Legislaturperioden an der Macht. Was Gerhard Schröder mit sieben Jahren ja auch fast geschafft hat. 

Der Publizist und Politologe Arnulf Baring warnte damals, diese Frau habe keinerlei Plan, Vision, Vorstellung von dem, was sie wolle, weshalb es verhängnisvoll sei, wenn sie ein Land anführe.

Sarrazin: Die Sicht Professor Barings teile ich. Allerdings spielt es gar keine Rolle, ob Politiker einen „Plan, Vision, Vorstellung“ haben, wenn es darum geht, Ämter zu erlangen. Das ist vielmehr eine Frage ihres Instinkts und ihrer Geschicklichkeit im politischen Überlebenskampf. Und darin hat sich Angela Merkel zu allen Zeiten außerordentlich begabt gezeigt. 

Was zunächst ja völlig verkannt wurde, Stichwort „Kohls Mädchen“, so ihr früher Spitzname. Damals glaubte man, sie würde, wie die etwas nach ihr in ein Ministeramt berufene Claudia Nolte, wieder verschwinden, sobald der Kanzler ihr seine schirmende Hand entzöge. Nolte verschwand tatsächlich, Merkel dagegen servierte schließlich sogar Helmut Kohl ab.    

Sarrazin: Allerdings verdankte sie dies, außer ihrer Geschicklichkeit, auch einer Reihe historischer Zufälle. Und zuerst war sie als neue Parteivorsitzende schwach, die Wahlerfolge der CDU blieben mäßig, und 2002 diente sie CSU-Chef Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur an, um politisch zu überleben. Allerdings, daß bei ihr kein „Plan, Vision, Vorstellung“ – ich würde von Ordnungsvorstellung sprechen – zu erkennen war, sollte man nicht überbewerten. Denn es gab das Leipziger Parteiprogramm der CDU von 2003, das sie hätte umsetzen können. Was zählt, ist nicht, ob sie eigene Vorstellungen hatte, sondern daß sie sich nicht an das hielt, womit sie bei ihrer Wahl 2005 angetreten war und was sie den Wählern versprochen hatte. 

In Ihrem neuen Buch sagen Sie, Angela Merkel sei zwar als CDU-Kandidatin gestartet, habe aber in der ersten Phase ihrer Regierung als sozialdemokratische und in der zweiten Phase als grüne Kanzlerin gewirkt. 

Sarrazin: Ja, das Leipziger Programm war strikt auf Reduzierung von Bürokratie, Abgaben, Steuern und Schulden ausgerichtet, und die Forderung von Friedrich Merz, künftig müsse eine Steuererklärung auf einen Bierdeckel passen, war typisch dafür. Tatsächlich jedoch hat Angela Merkel die CDU nach ihrem knappen Wahlsieg 2005 in wesentlichen Fragen sogar noch sozialdemokratischer ausgerichtet, als die SPD es war, und diese damit eines Teils ihrer Themen und somit auch ihrer Wähler beraubt. Dann begann sie auch immer stärker auf grüne Themen einzugehen. Mehr oder weniger nahtlos schloß sie etwa an die Energie- und Umweltpolitik der rot-grünen Vorgängerregierung an – jedoch ohne deren konzeptionelle Mängel zu beheben. Allerdings ist das Anknüpfen an die Politik der Grünen inzwischen ja ein allgemeines Phänomen, das alle etablierten Parteien betrifft. Man kann deshalb heute im Grunde in vielerlei Hinsicht von einer Art neuen Einheitspartei Deutschlands sprechen, die von der CSU bis zu den Grünen geht und auch Teile der Linkspartei umfaßt.

War dieser Kurs von Beginn an bei Angela Merkel angelegt oder hat sie ihn eher „zufällig“ eingeschlagen, einfach weil sie dem Zeitgeist gefolgt ist – der auch ein anderer hätte sein können? 

Sarrazin: Sie hat das wohl weniger aus inhaltlicher Überzeugung getan, sondern in erster Linie zur Sicherung ihrer Macht und Stellung als Kanzlerin. Inhalte rangieren bei ihr dahinter. Bezüglich ihrer Prinzipien hat sie sich meist opportunistisch verhalten. Steuerreform, Verminderung der Abgabenlast oder auch bei der Rentenreform stets gab sie den Sozialdemokraten nach. Dazu kommt ihre prinzipienlose Haltung in Fragen von Ehe und Familie. Immer wenn Druck von außen kam, wählte sie einen Weg, der diesen Druck möglichst stark minderte und gleichzeitig ihre Machtposition nicht in Gefahr brachte. Das ist auch die Erklärung dafür, daß sie 2009 in der Euro-Krise dem Abschied von den Prinzipien des Maastrichtvertrags zugestimmt hat. Und darum hat sie auch so opportunistisch, weil in völligem Widerspruch zu ihren Wahlversprechen und ohne jede sachliche Notwendigkeit, 2011 den Atomausstieg vollzogen. Am Ende ihrer Kanzlerschaft hat sie einer Klimapolitik zugestimmt, die in ihren Zielen irreal ist und in ihren Auswirkungen katastrophal sein wird. 2015 hat sie die Politik der offenen Grenzen praktiziert, nachdem unter ihrer Verantwortung jahrelang – zur Erinnerung: trotz Warnungen – am europäischen und deutschen Einwanderungsrecht nichts geändert worden war.Immerhin aber hat sie diese Strategie der opportunistischen Anpassung von Wahl zu Wahl getragen. Aus politisch-pragmatischer Sicht war dies eine große Leistung. 16 Jahre lang hat sie erfolgreich an der eigenen Partei vorbei regiert. Und zudem sind die Bürger, wie Sie richtig anmerken, sogar nach so vielen Jahren ihrer nicht einmal überdrüssig. Selbst am Ende ihrer Amtszeit ist sie noch eine der populärsten Politiker Deutschlands. Auch das ist eine ganz erstaunliche Leistung. Denn außer ihr hat das in der Geschichte der Bundesrepublik nur noch Konrad Adenauer geschafft. Überhaupt fallen mir ad hoc nur drei europäische Regierungschefs ein, die länger als Merkel an der Macht waren: Mussolini, Stalin und Franco.

Sie schildern sie als Opportunistin, die aber am Ende beliebter ist als etwa der idealistische Willy Brandt, der konsequente Helmut Schmidt, der „reformmutige“ Gerhard Schröder und ihr Übervater Kohl, der historische „Kanzler der Einheit“. Wie ist das zu erklären?

Sarrazin: Angela Merkel tritt nie aggressiv auf und weckt daher auch keine Aggressionen. Ihre Kehrtwenden vollzieht sie stets so, daß der Bürger davon unmittelbar gar nichts merkt. Wer spürt denn privat etwa den Einstieg in die Euro-Schuldenunion? Natürlich werden die Bürger massiv betroffen sein, aber „nur“ indirekt, so daß die meisten das gar nicht mit Angela Merkel verbinden werden. Das gleiche mit der Energiewende, deren wirklich einschneidende Folgen sich in vielleicht zehn Jahren einstellen werden, und ebenso ist es bei der Masseneinwanderung, der Kriminalität etc. Das ist, wie wenn Sie die Inspektion Ihres Autos vernachlässigen. Das geht oft über viele Tausende Kilometer gut, bevor es Sie dann erwischt. 

Sie haben 2010 mit „Deutschland schafft sich ab“ nicht etwa ein Buch gegen Ausländer vorgelegt, wie viele bis heute glauben, sondern einen dringenden Aufruf zur Reform. Was von dem, was Sie dort zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit Deutschlands gefordert haben, wurde unter Merkel angepackt beziehungsweise nicht angepackt und mit welchen Folgen?

Sarrazin: Das habe ich unter anderem in einem vierzigseitigen Vorwort der Neuausgabe untersucht, die vor einigen Monaten zum zehnten Jahrestag des Erscheinens von „Deutschland schafft sich ab“ herausgekommen ist. Dort zeige ich auf, daß alle von mir damals vorausgesagten Konsequenzen, sei es im Bereich des Sozialstaates, der Bildung, der Demographie oder der Einwanderung, eingetreten sind – ja, sogar in noch schärferer Form, als ich es prognostiziert habe! Wir sind also leider genau auf dem Weg, vor dem ich immer gewarnt habe – nur schon weiter fortgeschritten als befürchtet.

Ihre neue Veröffentlichung „Wir schaffen das“ entspricht nicht dem, was man von Ihnen gewohnt ist, nämlich große, dicke, zahlen- und faktengesättigte Bücher. Stattdessen bietet die schmale Schrift eine 35seitige Betrachtung des Werdens und Wirkens Angela Merkels und etwa 120 Seiten allgemeine Betrachtungen zur Politik. Fürchten Sie nicht, Ihre Leser könnten enttäuscht sein, die doch sicher wieder eine grundlegende Analyse, diesmal der Ära Merkel, erwarten? 

Sarrazin: Bitte verwechseln Sie nicht die Länge eines Textes mit der Frage, wie grundlegend er ist. Der knappe Text des neuen Buches ist wohlfundiert. Viele Leser sehen es auch als einen Vorteil an, daß sich zur Abwechslung ein Text von mir auch an zwei Abenden oder auf einer längeren Zugfahrt abschließend lesen läßt. Die Länge eines Buches muß immer seinem Thema angemessen sein. Daß meine Analysen stets empirisch gut abgesichert sind und keine nennenswerten sachlichen Fehler enthalten, mußten auch meine Kritiker letztlich anerkennen. Das ärgert sie ja so. Im neuen Buch geht es ja nicht um ein einzelnes Sachthema. Es geht vielmehr um die innere Mechanik von Politik und um das grundsätzliche Verständnis für politische Prozesse. Wer diese 180 Seiten mit Verstand liest, kann sich ein ganzes Studium der Politikwissenschaften ersparen. Er weiß nach der Lektüre zum Beispiel, wie sich Politik und Moral zueinander verhalten, wie sich die Schwächen der Menschen in der Politik auswirken oder was politisches Handeln ausmacht. Die zusammenfassende Betrachtung von Merkels Kanzlerschaft dient mir dabei als Einstieg in eine generelle Betrachtung der politischen Mechanik.

Wird sich, wenn Sie recht haben und sich die Folgen ihrer Regierungszeit mit Verzögerung einstellen, das Bild der Deutschen von Angela Merkel in Zukunft fundamental wandeln und sie einmal als eine der schlechtesten und „fluchbeladensten“ Kanzler in unsere Geschichte eingehen? 

Sarrazin: Ich bin kein Prophet und ich werde der Versuchung zur Prophetie auch jetzt nicht nachgeben. Zumal Vorhersagen bekanntlich ja dann besonders schwer sind, wenn sie die Zukunft betreffen. 

Und wie lautet Ihr Tip für den Wahlsonntag, wer macht das Rennen?

Sarrazin: Dafür gilt das gleiche.






Dr. Thilo Sarrazin, der Volkswirt, geboren 1945 in Gera, war 2002 bis 2009 Finanzsenator in Berlin und danach bis September 2010 Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank sowie von 1973 bis 2020 Mitglied der SPD. Mit „Wir schaffen das. Erläuterungen zum politischen Wunschdenken“ legt der mehrfache Bestsellerautor eine kurze Reflexion über das Wesen der Politik vor. 

 www.thilo-sarrazin.de

Foto: Erfolgsautor und Kritiker Sarrazin: „Die Konsequenzen von Angela Merkels Kanzlerschaft werden im Laufe der kommenden Jahrzehnte für die Bürger immer sichtbarer werden“