© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

„Das war den Preis nicht wert“
Afghanistan: Bei deutschen Veteranen kommen Wut und Frust hoch, weil die Bundeswehr das Land nicht gesichtswahrend verlassen konnte. Die Gründe dafür haben sie früh erkannt
Christian Vollradt

Vor einem Monat endete die zehntägige Evakuierungsoperation in der afghanischen Hauptstadt Kabul, einer der gefährlichsten Einsätze der Bundeswehr. Vergangenen Freitag verlieh Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Kommandeur der Mission, Brigadegeneral Jens Arlt, stellvertretend für die beteiligten Soldaten das Bundesverdienstkreuz. 

Frühere Kameraden sprechen voll Hochachtung über den Offizier, der im Chaos am Flughafen seine Leute von vorn führte. „Handwerklich war die Evakuierung eine top Operation“, bestätigt ein Stabsoffizier im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Daß ein Großteil der evakuierten Afghanen keine Berechtigung hatte, die Luftbrücke nach Deutschland zu nutzen, sei schließlich nicht den Soldaten vor Ort anzulasten.

„Afghanen habe ich nur getraut, solange ich sie sehen konnte“

Doch ungeachtet dieser herausragenden Leistung blicken viele Veteranen des fast 20 Jahre währenden Afghanistan-Einsatzes gerade angesichts der Bilder vom Fall Kabuls frustriert und wütend zurück. Über 90.000 Männer und Frauen der Bundeswehr hatten dort Dienst getan, viele von ihnen mehrmals. Insgesamt 59 deutsche Soldaten ließen ihr Leben am Hindukusch, 35 davon fielen im Gefecht oder durch Anschläge. Über 120 Soldaten und zwei Soldatinnen wurden bei Kampfhandlungen verwundet, teilweise schwer. Weit über tausend mußten einsatzbedingt in psychiatrische Behandlung, etwa wegen Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS). 

War es das alles wirklich wert? Wenn unmittelbar nach dem Abzug der westlichen Truppen alles zusammenbricht, die Taliban nahezu kampflos das ganze Land erobern, die für viele Milliarden ausgebildete afghanische Armee so rasch die Waffen streckt? „Es ist doch klar, daß man sich da die Sinnfrage stellt“, meint ein Veteran, der insgesamt drei Jahre in Afghanistan im Einsatz war. Weil er noch aktiver Offizier ist, möchte er seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. „Viele fragten sich schon am Beginn ihres Einsatzes: Was machen wir hier eigentlich, was ist das Ziel? Sollen wir Wahlurnen sichern? Oder Terroristen jagen?“ Als dann ab etwa 2007 aus der vermeintlich ruhigen interationalen Stabilisierungsmission ein „heißer“ Einsatz mit Schußwechseln und Sprengfallen wurde, hatte man auf taktischer Ebene die schwierige Lage zwar nach oben gemeldet. Doch, so ist der frühere Afghanistan-Soldat überzeugt, die politisch entscheidenden Leute hätten sich eher an Wunschbildern orientiert als an den Berichten, die die Realität darstellten: „Es mußte ja schließlich eine Erfolgsgeschichte sein …“

Diese Realitätsblindheit und Verkennung der Lage durch die Politik machte die Sache für die Einsatzkräfte am Hindukusch nur noch schlimmer. Denn eine Folge war die Begrenzung der personellen Kapazitäten. Die war nicht der Lage vor Ort angepaßt, sondern eher der Stimmung in Deutschland. Wie sollte man mit einer Kompanie ein Gebiet überwachen und sichern, das so groß ist wie die alte Bundesrepublik? Und wenn es etwa hieß, man habe hundert Mann Spezialkräfte vor Ort, so waren faktisch nur maximal 40 Mann operativ im Einsatz; denn den zahlenmäßig überwiegenden Teil  bildeten die Techniker und Logistiker, die für solch eine Operation notwendig sind, meint ein Soldat, der mehrmals an Kampfhandlungen beteiligt war. Ein weiteres grundsätzliches Problem: Die Offiziere vor Ort hätten zu wenig Handlungsfreiheit gehabt. So hätten sie zum Teil nicht ihre operativen Vorteile nutzen können. 

Ähnlich hat es auch Marc Lindemann erlebt, der 2005 und 2009 als Offizier der Feldnachrichtentruppe am Hindukusch im Einsatz war. Bereits vor über zehn Jahren faßte er seine Erfahrungen in einem bei Ullstein erschienenen Buch zusammen: „Unter Beschuß – Warum Deutschland in Afghanistan scheitert“. Die knapp 300 Seiten sind auch eine Abrechnung mit den Fehlern der politisch Verantwortlichen in Berlin. Der Feststellung im Untertitel dürfte mittlerweile niemand mehr widersprechen. Zu eindeutig haben die jüngsten Ereignisse, hat der Siegeszug der Taliban bis zum Fall von Kabul die Richtigkeit der These bestätigt. „Vorherzusehen, daß wir dort scheitern werden, war kein Geniestreich“, meint Lindemann im Gespräch mit der jungen freiheit. Von Anfang an sei die deutsche Afghanistan-Politik von Blauäugigkeit, Unkenntnis und Desinteresse geprägt gewesen. Statt eines Konzepts gab es vage Absichtserklärungen über das, was man erreichen wollte. Kein klar definiertes Ziel, keine Exit-Strategie. Außerdem sei die deutsche Politik nur zu einem Minimaleinsatz der Kräfte bereit gewesen. 

Rückblickend sagt der 1977 geborene Politologe, der nach Ende seiner aktiven Dienstzeit als Journalist und Politikberater arbeitet, über seine eigene Motivation: „Ich war nicht dort, um Mädchenschulen zu bauen.“ Außer Patriotismus war es „schon so eine Art Abenteuerlust – auch wenn das als unfein gilt“.

Um so frustrierender sei für ihn und andere Soldaten damals die Erfahrung gewesen, bei Beschuß durch die Taliban im Bunker sitzen zu müssen und sich nicht wehren zu dürfen. Aufgrund seiner Erfahrungen als Nachrichtenoffizier habe ihn auch die nahezu kampflose Kapitulation der Afghanischen Nationalarmee (ANA) nach Abzug der westlichen Streitkräfte nicht wirklich überrascht. Diebstahl und Drogenmißbrauch seien dort eher die Regel als die Ausnahme gewesen. Manch ein Soldat habe sich doppelt bezahlen lassen, also neben seinem Sold von der Regierung auch Gelder von den Aufständischen, Drogenbossen oder Warlords bezogen. „Es gab immer wieder gefährliche Situationen“, so Lindemann. 

Ein anderer Veteran bestätigt diese Sicht auf die Einheimischen. Das gelte auch für die Ortskräfte, von denen mittlerweile ein idealisiertes Bild gezeichnet werde. „Den Afghanen habe ich nur soweit getraut, wie ich sie sehen konnte“, so der Soldat. Er spricht aus bitterer Erfahrung. Einer seiner Kameraden fiel während einer gemeinsamen Mission von Bundeswehr und Soldaten der ANA. „Auf einmal waren die Afghanen weg – und unsere Leute in einen Hinterhalt geraten.“ Auch die Zivilisten im Land erlebte der Offizier nicht immer so positiv und dankbar, wie in offiziellen Verlautbarungen dargestellt. Vieles, was man von deutscher Seite aufgebaut habe, sei der Korruption oder dem Neid verfeindeter Einheimischer zum Opfer gefallen. Es wurde zudem viel gelogen. Dorfälteste bezichtigten den Nachbarort, mit den Taliban zusammenzuarbeiten, nur um einen Vorteil für sich daraus zu ziehen. Manchmal war es dann in Wirklichkeit genau umgekehrt. Die Realität halte sich eben nicht an politische Planungen. „Anfangs hatte ich echt Mitleid mit den Leuten dort, später wurde daraus nur noch Abscheu“, faßt der Mann seine Erfahrungen zusammen. Nur so läßt sich wohl nachvollziehen, warum sein abschließendes Urteil so ambivalent ausfällt: „Ich liebe – und ich hasse dieses Land!“

„Nie daran geglaubt, daß wir da etwas stabilisieren können“

Auch ohne körperliche oder psychische Verwundungen macht der Auslandseinsatz vielen Veteranen noch zu schaffen. Militärpsychologen sprechen von „moral injuries“, moralischen Verletzungen, durch die das moralische Erleben in Frage gestellt wird. Als Folge davon kann es vorkommen, daß sich die Betroffenen von Freunden und Familie entfremden, sich sozial zurückziehen. Ein weiteres Symptom ist die Anhedonie, also der Verlust der Fähigkeit, Freude zu empfinden, in Situationen, die früher Freude bereitet haben. 

Marc Lindemann resümiert seinen Einsatz heute rückblickend eher nüchtern: „Ich habe nie daran geglaubt, daß wir dort etwas stabilisieren können.“ Ja, die Bundeswehr habe am Hindukusch Kampf-und Einsatzerfahrungen gesammelt. Das sei ein Nebeneffekt. „Aber das war den Preis nicht wert“, ist der Offizier mit Blick auf die Opfer, die an Körper oder Seele Verwundeten und die Gefallenen, überzeugt. Zumal diese Erfahrungen nun nicht viel nützen, wo sich doch die Aufgaben der Truppe wieder verstärkt in Richtung der Landes- und Bündnisverteidigung verlagern. 

Und wie bewertet er, daß der Außenminister und die Verteidigungsministerin in Berlin von den jüngsten Ereignissen am Ende des fast zwei Jahrzehnte langen Einsatzes so kalt erwischt wurden? Diplomaten und Geheimdienstler hätten das alles schon gemeldet, ist Lindemann überzeugt. Die Berichte seien nur nicht nach oben durchgekommen. „Entweder wurde das weichgezeichnet – oder schlichtweg ignoriert.“

Foto: Bundeswehrsoldat sichert eine Landezone für Hubschrauber  in der Nähe von Masar-i-Sharif (2020): „Ich liebe – und ich hasse dieses Land“, so das ambivalente Gefühl beim Rückblick auf die Zeit am Hindukusch