© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

„Ich kann ein Auto organisieren“
Italiens Migrantenkrise: Mit Hilfe von NGOs wie Baobab machen sich Majeed & Co. auf den Weg nach Norden / Erster Teil der Reportage
Hinrich Rohbohm

Große, orangefarbene Absperrbänder umspannen den Platz vor dem Bahnhof von Tiburtina im Nordosten Roms. Der Asphalt ist aufgerissen. Lange galt der Ort als Anlaufpunkt für in Rom angekommene Migranten, die keine Bleibe haben. Angezogen unter anderem von der Hilfsorganisation Baobab, die hier morgens und abends Essen ausgibt. Angeblich sollen sie den Migranten auch Bahntickets zahlen, damit diese sich weiter nach Norden aufmachen können.

„Einige haben Fahrkarten nach Florenz erhalten“, will auch Majeed erfahren haben, der sich am Wasserhahn vor einem Spirituosenstand gerade eine Plastikflasche mit Wasser auffüllt. Wie viele andere will auch der 23 Jahre alte Mann aus Ghana weiter nach Norden. „Ich möchte entweder nach Deutschland oder in die Niederlande“, sagt er. In beiden Ländern seien bereits Freunde und Verwandte von ihm. Majeed ruft auf seinem Mobiltelefon einige Fotos auf. Eines davon zeigt einen Schwarzafrikaner, der etwa in Majeeds Alter sein dürfte. Mit ihm auf dem Bild: eine korpulente, gut zwanzig Jahre ältere Frau mit blond gefärbten Haaren.

Die meisten haben sich in die Außenbezirke Roms begeben

„Das ist mein Cousin Joel mit seiner Frau, sie haben vor drei Jahren geheiratet.“ Majeed strahlt über das ganze Gesicht, während er das sagt. Joel habe inzwischen einen Job, verdiene Geld, mit dem er seine Mutter, seine drei jüngeren Schwestern und seine beiden Kinder in einem Dorf nahe der ghanaischen Hauptstadt Accra versorgen kann. Seine beiden Kinder? Majeed grinst. „Die sind noch von einer anderen Frau aus Ghana.“

Die Erfolgsgeschichte seines Cousins war ein Grund dafür, daß sich Majeed aufmachte, um nach Europa zu gelangen. Von Tunesien aus wagt er die gefährliche Überquerung des Mittelmeeres. „Mein ganzes Geld hab ich für diese Überfahrt ausgegeben.“ Seit fünf Monaten ist er nun in Italien, schlägt sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten in Kalabrien durch, ehe er in einer Odyssee von Linienbusverbindungen nach Rom gelangt. „Zu mehr reicht es nicht, mir fehlt das Geld, um weiterzukommen.“

Am Hauptbahnhof Termini gerät er mit Schleusern in Kontakt. Doch man wird sich nicht einig. Grund auch hier: das fehlende Geld. Landsleute hatten ihm dann vom Bahnhof Tiburtina erzählt. Davon, daß manche Migranten dort Regionalbahntickets bezahlt bekommen hätten, um zumindest weiter bis Florenz zu gelangen.

Doch Mitte Juli greifen die italienischen Behörden in Tiburtina durch, lassen das Gelände rund um den Bahnhof räumen, auf dem Migranten in Zelten und auf Pappe im Freien liegend übernachteten. Müllhalden zeugen von den Ereignissen der vergangenen Monate. Zurückgelassene Taschen und Rucksäcke, alte Jacken und Plastikbecher. Auf dem Weg zum Busbahnhof steigt ein strenger Uringeruch in die Nase. Auch hier liegt Müll in der Gegend verstreut, mehrfach sind Kotreste am Wegrand zu sehen. Ein Dutzend Schwarzafrikaner stehen am dort befindlichen Spirituosenstand zusammen, der als Treffpunkt dient.

„Die haben hier gewartet und geschlafen und sich mit Wasser versorgt“, sagt uns der Verkäufer. Abend für Abend kommen Afrikaner zu ihm, kaufen „Bier, Whisky, Wodka und andere Sachen.“ Seit Mitte Juli ist es weniger geworden. Die Räumungen zeigen Wirkung. „Einige sind geblieben, die schlafen jetzt ein paar Straßen weiter.“ Die meisten jedoch seien inzwischen über die Außenbezirke Roms verstreut.

Immer wieder hatten sich Anwohner über Müll, Gestank und Belästigungen durch teilweise betrunkene Migranten beschwert. „Es ist gut, daß da endlich etwas geschehen ist“, meint eine Anwohnerin gegenüber der JF. Besonders für Frauen sei der Gang über das Bahnhofsgelände äußerst unangenehm, vor allem in den Abendstunden.

Hilfsorganisationen wie Baobab kritisieren dagegen, daß die Probleme nicht gelöst, sondern lediglich in die Peripherie verlagert werden. Doch diese „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Strategie durch konsequente Räumung von Plätzen mit großen Ansammlungen von Migranten hat Methode. Zentrale Anlaufpunkte für weitere Zuwanderer sollen vermieden werden, größere Brennpunkte mit daraus folgenden Anwohnerkonflikten gar nicht erst entstehen. Ein Vorteil für die Politik, denn so verschwindet die Migrationskrise aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Dabei ist die Krise derzeit im Begriff, wieder mit Wucht zurückzukehren. Entsprechend betonte Innenministerin Luciana Lamorgese, daß Italien auf „konkrete Zeichen der Solidarität“ der EU-Mitgliedstaaten bei der Umverteilung von Flüchtlingen warte.

In den ersten acht Monaten dieses Jahres zählte die Grenzschutzagentur Frontex an Europas Außengrenzen schon mehr als 100.000 illegale Übertritte. Bereits 64 Prozent mehr als im gesamten vorigen Jahr. Allein über die zentrale Mittelmeerroute waren bis August rund 41.000 Migranten aus Nord-afrika nach Italien gekommen, eine Zunahme von 90 Prozent gegenüber 2020. Auch im westlichen Mittelmeer, der Balkanroute und der neuen Route über die Kanarischen Inseln nimmt die Zuwanderung wieder an Fahrt auf. Lediglich auf der östlichen Mittelmeerroute vermeldet Frontex noch sinkende Zahlen. Ein Umstand, der sich angesichts der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan schon bald ändern dürfte.

Hinzu kommt die EU-Binnenmigration, die gerade für Deutschland eine erhebliche Rolle spielt. Denn genau wie Majeed setzen  zahlreiche Zuwanderer ihren Weg von Italien in den Norden fort. Der Hintergrund: Schon seit längerem steht die italienische Migrationspolitik bei den EU-Nordländern in der Kritik, die dem Land vorwerfen, die Zuwanderer sich selbst und der Straße zu überlassen, damit diese aufgrund mangelnder Perspektiven das Land verlassen und weiter nach Norden ziehen.

Für weitere Brisanz sorgt ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, das eine Abschiebung von Migranten ins EU-Ersteinreiseland Italien künftig untersagt, weil dort deren Grundversorgung nicht gewährleistet sei. Mit anderen Worten: Haben es Migranten von Italien aus nach Deutschland geschafft, bleiben sie. Trotz Dublin-Übereinkommen.

Wie das in der Praxis aussieht, läßt sich in Rom beobachten, wo überall in der Stadt verteilt Migranten auf der Straße schlafen und leben. Die Angst vor Unruhen und mit der Migration einhergehender Terrorgefahr ist groß. Sicherheitspersonal steht an zahlreichen Orten der Stadt. Soldaten mit Jeeps, gekleidet in Tarnuniformen, zum Teil schwer bewaffnet mit Maschinenpistolen. Carabinieri patrouillieren durch die Stadt, Sicherheitsbedienstete an Bahnhöfen und Metro-Stationen ebenso. In belebteren Straßen sind Poller hochgefahren, an ihren Einmündungen stehen ebenfalls bewaffnete Soldaten. Wir begeben uns nach Termini, dem Hauptbahnhof Roms.

Auf den ersten Blick erscheint alles normal. Nichts, was auf eine Migrationskrise in Italien hindeuten würde. Erst bei einer längeren und genaueren Betrachtung des Geschehens rund um den Bahnhof werden die Probleme sichtbar.

Zu sehen sind einzelne Schwarzafrikaner, die auf ihren Koffern vor dem Bahnhofsgebäude schlafen. Nordafrikanische Familien, die völlig erschöpft in der Ankunftshalle kauern. Auf der Straßenseite gegenüber dem Bahnhof stehen weitere nord- und schwarzafrikanische Männer, die immer wieder mit ankommenden Migranten reden. Handelt es sich um Schleuser? Geht es in den Gesprächen um die Weiterfahrt nach Norden? Wir wollen das genau wissen, kommen mit mutmaßlichen Schleuserhelfern ins Gespräch. Wir fragen einen der Männer, ob man uns helfen könne, einen geflüchteten Freund nach Deutschland zu bringen. Dafür sprechen wir einen der Männer an. Mißtrauische Blicke des offenbar aus Afrika stammenden Mannes. Er spricht mit den beiden neben ihm stehenden in einer uns nicht verständlichen Sprache. Dann Kopfschütteln und anschließendes Schweigen. Das Unterfangen scheitert zunächst. 

Die Grenze zu Frankreich ist eine „günstige Stelle“

Erst nach mehreren Anläufen haben wir Glück. Ein Nigerianer stellt sich als Jonathan vor, führt uns in eine Parallelstraße zum Hauptbahnhof. Vorbei an Rucksackläden, Shops für Handyzubehör, kleinen Reisebüros. Offenbar die richtige Fährte. Er bringt uns zu einem weiteren Schwarzafrikaner, wohlbeleibt, jung, Glatze, Sonnenbrille im Gesicht.

„Ich kann ein Auto organisieren, das deinen Freund an die französische Grenze bringt“, schlägt er plötzlich vor. Angeblich an eine „günstige Stelle“, an der die Chancen gut stünden. „Auf der anderen Seite wartet ein anderer Fahrer, der bringt ihn nach Nizza.“ Sei alles organisiert und erprobt. Kosten: 1.000 Euro. „Geht es über Österreich nicht schneller?“ fragen wir ihn. „Geht, aber schwieriger.“ Die Alpen und der nicht ungefährliche Weg über die grüne Grenze. Hat dein Freund Geld?“ „Keine Ahnung, wieviel er hat.“ Es gehe auch direkt nach Deutschland, sei dann aber deutlich teurer.

„Der Fahrer fährt in dem Fall direkt nach Deutschland. Deinen Freund müssen wir dann aber verstecken.“ Die zu zahlende Summe sei Verhandlungssache. Auffällig: Immer weniger Migranten scheinen mittlerweile den Zug als Fortbewegungsmittel zu nutzen. Der mögliche Grund dafür könnte auch in den Corona-Beschränkungen liegen. Zumindest in Fernzügen und offenbar auch in Flixbussen müssen Passagiere den EU-weit gültigen Covid-Paß vorzeigen. 

Liegt dieser nicht vor, erfolgt keine Beförderung. Dafür scheint hingegen die illegale Einreise über Güterzüge wieder zuzunehmen. Im vergangenen Monat hatte die deutsche Polizei auf dem Rangierbahnhof in München-Laim sowie am Güterbahnhof München-Ost mehr als 30 Migranten entdeckt. Sie hatten in Italien die Dachplanen der auf den Güterzügen transportierten LKW-Auflieger aufgeschlitzt um sich dort vor den Grenzkontrolleuren zu verstecken. Als Startpunkt hierfür nutzen Migranten zumeist den Güterbahnhof von Verona.

Was mit den Migranten in Florenz geschieht und was am Bahnhof von Verona vor sich geht, lesen Sie in der kommenden Ausgabe im zweiten Teil dieser Reportage.

Foto: Migranten auf dem Bahnhofsvorplatz von Tiburtina im Nordosten Roms: Monatelanges Warten auf ein Ticket nach Florenz