© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

Unsere Masken flattern uns voran
Aus dem Tollhaus: Im Zeichen der Corona-Bekämpfung wird die reale zunehmend von einer virtuellen Wirklichkeit verdrängt
Thorsten Hinz

Das Pandemie-Regiment stellt eine Gewißheit in Frage, die Konservative und Rechte als letzte Rückversicherung für sich reklamieren: die Gewißheit, daß die Wirklichkeit auf ihrer Seite steht und die harte, unwiderlegbare Faktizität alle ideologischen Modelle, Utopien, Weltverbesserungsphantasien wenn nicht über kurz, dann über lang außer Kraft setzt. Wir sehen, daß es möglich ist, eine virtuelle in eine faktische Realität zu übersetzen und die Menschen zu Komparsen in einem falschen Film zu machen.

Gewiß, viele sind skeptisch, frustriert oder zornig, doch darauf kommt es nicht an. Sie fügen sich in die zugewiesene Rolle, um ihre Ruhe zu haben. Andere beteuern mit heiligem Ernst, ihre Akzeptanz der Einschränkungen, Verbote, Zwänge entspringe der Einsicht in deren Notwendigkeit. Eine Minderheit rebelliert, wobei sie gar nicht die Krankheit anzweifelt; sie stellt vielmehr ihre Schwere sowie die Berechtigung und Effizienz der Pandemie-Maßnahmen in Frage und protestiert gegen die Arroganz und die Kontrollwut des Staates. Gegen Einwände erhebt ein Heer von Claqueuren umgehend einen ohrenbetäubenden Lärm: Verschwörungstheoretiker! Haßprediger! Extremisten! Nazis! Staatsfeinde! Der Glaube gibt sich aufgeklärt. Das Land ist ein Tollhaus.

Das ist keine neue Erfahrung. In Bertolt Brechts 1936 verfaßter „Rede über die Widerstandskraft der Vernunft“ heißt es: „Tatsächlich kann das menschliche Denkvermögen in erstaunlicher Weise beschädigt werden. Dies gilt für die Vernunft der einzelnen wie der ganzer Klassen und Völker. Die Geschichte des menschlichen Denkvermögens weist große Perioden teilweiser oder völliger Unfruchtbarkeit, Beispiele erschreckender Rückbildungen und Verkümmerungen auf. Der Stumpfsinn kann, mit geeigneten Mitteln, in großem Umfang organisiert werden. Der Mensch vermag unter Umständen ebensogut zu lernen, daß zwei mal zwei fünf, als daß es vier ist.“

Brecht hatte den Nationalsozialismus im Auge, aber die Sätze betreffen auch die anderen Spielarten des Totalitarismus. 1962 eröffnete der abgesetzte Chefredakteur der Ost-Berliner Kulturzeitschrift Sinn und Form, Peter Huchel, die letzte von ihm verantwortete Ausgabe mit diesem Text, was die SED-Führung ihn schwer büßen ließ.

Die geeigneten Mittel, von denen Brecht spricht, bestehen in einer ubiquitären Propaganda im Verbund mit politisch-administrativer Macht, die sich bis zum offenen Terror steigern kann. Die Propaganda entfaltet ein stringentes Weltbild, das Geschichte und Gegenwart aus einem zentralen Punkt erklärt – etwa aus dem Kampf der Klassen oder der Rassen – und von hier aus die Gestaltung einer lichten Zukunft verspricht. Längst nicht bei allen verfängt der Krieg gegen den gesunden Menschenverstand, doch weil öffentliche Zweifel zu Repressionen führen, verhalten die Zweifler sich mehrheitlich so, als glaubten sie an die geoffenbarte Ideologie. Viele halten die kognitive Dissonanz – die Diskrepanz zwischen ihrem besseren Wissen und ihrem falschen Handeln – nicht aus und vollziehen neben dem äußeren auch den inneren Kniefall. Eine Minderheit hält sich innerlich frei, aber sie schweigt, um sich nicht physisch zu gefährden.

Die Achillesferse früherer Totalitarismen war ihre territoriale Begrenzung. Der Nationalsozialismus war zudem die schwächere Variante, weil er die vermeintliche Exklusivität einer „arischen Rasse“ behauptete. Anders der Kommunismus respektive Bolschewismus. Sein universeller Anspruch war zugleich ein Angebot an die Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Völker. Allerdings gelang es ihm nicht, die Weltrevolution auszulösen, so daß der Sozialismus auf die Sowjetunion und ihre späteren Satelliten beschränkt blieb und der Vergleich mit dem Kapitalismus seine Dysfunktionalität offenlegte. Er war daher gezwungen, die Faktizität zum einen auszusperren, zum anderen zu verfälschen. Der Informationsfluß wurde reglementiert, Statistiken wurden gefälscht oder zensiert, punktuelle Erfolge auf das Ganze hochgerechnet, um die permanente Mangelwirtschaft zu verdecken. Jeden Abend flimmerten Nachrichten über großartige Produktionserfolge, sanierte Stadtkerne, über technische Neuerungen über den Bildschirm, flankiert von scheinbar spontanen Loyalitätsbekundungen. Gleichzeitig wurde ein grau in grau gefärbtes Bild des Westens gezeichnet. Das Ziel war die völlige Konfusion der Wahrnehmung, in der die stringente Logik der Partei den einzigen Halt bot.

Zudem wurde eine künstliche, auf Permanenz gestellte Dynamik erzeugt. Vor allem in den Anfangsjahren wurden Volksfeinde und Agenten entlarvt, der „Sozialistische Wettbewerb“ sorgte für Massenmobilisierung. Die staatlichen Planvorgaben zur Produktionssteigerung wurden durch angeblich spontane Gegenpläne der „Werktätigen“ überboten, und jedes Jahr gab es einen Parteitag, Gewerkschaftskongresse, ein Festival der Staatsjugend, irgendein Jubiläum vorzubereiten und zu feiern. Belegschaften wetteiferten darum, wer als erster die vollständige Mitgliedschaft in den obligatorischen Massenorganisationen vermeldete. Sämtliche Lebensbereiche sollten kontrolliert, gesteuert, die persönlichen

Energien absorbiert werden, um sie in die vom Staat erschaffene virtuelle Wirklichkeit einzupassen und ihrem Telos, der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, dienstbar zu machen. 

Das Ideal bestand in einem geschlossenen System, das sich materiell und ideell als Käseglocke über die Menschen wölbt. Nicht nur stacheldrahtbewehrte Staatsgrenzen, auch die Grenzen der Sprache sollten die Grenzen des Neuen Menschen bilden. Zwar gelang es der SED-Führung, die eigene Bevölkerung hinter der Mauer einzusperren. Auch war die Einfuhr von Büchern und Zeitungen aus dem Westen verboten, aber es gab Westbesuche, Westpakete, Westautos, die Westmark, die sich als harte Zweitwährung etablierte. Vor allem gab es die Westmedien, welche die DDR-Propaganda täglich mit der unterdrückten Faktizität konfrontierten. Diese äußeren Einflüsse vermittelten die Vorstellung einer alternativen, weniger von Ideologie durchtränkten Wirklichkeit und konterkarierten die Indoktrination. Die Menschen verhielten sich mehrheitlich brav, aber sie waren gespalten. Als die Mauer aufgesprengt wurde, fiel die virtuelle DDR-Welt in sich zusammen.

Inzwischen wird erneut versucht, eine virtuelle Wirklichkeit mittels administrativer Macht in gelebte Realität zu verwandeln und sich das Leben zu unterwerfen. In den 1990er Jahren wurde über die Political Correctness noch gelacht. Allzu grotesk erschien der Versuch, unangenehme Fakten aus der Welt zu schaffen, indem man durch Sprach- und Bewußteinsregulierung die Realitätswahrnehmung veränderte und beispielweise kriminelle Ausländer zu verhaltensoriginellen Teilhabe-Berechtigten erklärte. Heute lacht darüber niemand mehr.

2010 erschien Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, eine faktenbasierte, mit mathematischer Präzision ausgearbeitete Analyse der fehlgeleiteten Zuwanderungspolitik und ihrer Folgen. Statt die praktizierte Politik an den ausgebreiteten Fakten zu messen, wurde eine Kampagne losgetreten, die dem Buch und seinem Verfasser das Prädikat „umstritten“ – ein anderes Wort für „nicht gesellschaftsfähig“ – anhefteten. Das Werk sei, so Kanzlerin Merkel, „nicht hilfreich“. Das war der Sieg der Ideologie über die Faktizität.

Ein weiterer Meilenstein war die „Hetzjagd von Chemnitz“ im Jahr 2018. Es handelt sich um eine Erfindung, im weiteren Sinne um eine glatte Umkehrung des Geschehens, aber da die „Hetzjagd“ hundertfach in den elektronischen Medien und der Presse verbreitet wurde, hat sie sich als reales Geschehen in den Hirnen festgesetzt und ist darüber hinaus zu einem politischen Mythos geworden. Um ihn durchzusetzen, wurde sogar ein hoher Beamter geopfert. 

Das aktuelle Hygiene-Regime legt sich nun als geschlossenes virtuelles System aus Propaganda und administrativem Zwang über die Realität. Es handelt sich um keine Ideologie im engen Sinne, weil ihm das eschatologische Telos fehlt. Es ist eine Machttechnik, die auf die Beherrschung sämtlicher Lebensbereiche zielt. Ihre Wirkung bezieht sie aus dem Appell an eine menschliche Urangst. Sie verspricht dem Einzelnen die Errettung vor dem Erstickungstod und fordert ihm dafür die Unterwerfung ab, was zur Paralysierung des gesellschaftlichen und privaten Lebens führt. Die Maske ist Mittel und Symbol der Paralyse; fahnengleich flattert sie uns auf dem Weg in die neue Normalität voran.

Weite Teile der Medien sind als Propaganda-Organe ein konstitutives Element dieser Mechanik. Sie überwältigen das Publikum mit suggestiven Bildern, Zahlen, Statistiken, Fachbegriffen und Neologismen, die geeignet sind, einen Zustand temperierter Panik zu erzeugen. Was als empirische Faktenbasis präsentiert wird, ist häufig so wenig belast- und überprüfbar wie die Phantasiezahlen sozialistischer Erfolgsbilanzen. Ihre Ausdeutung aber ist einer kleinen Gruppe ausgewählter Experten vorbehalten, die exklusiv mit Politik und Medien verbunden sind, während Kritikern – selbst ausgewiesenen Virologen – der Zugang zu den Medien und damit zum öffentlichen Raum versperrt wird. Die sozialen Netzwerke blockieren sie, außerdem sind sie staatlichem und semistaatlichem Verfolgungsdruck ausgesetzt. So werden die Suggestionen für eine verunsicherte Bevölkerung zur unumstößlichen Wahrheit, und ein keinerlei demokratischer Kontrolle unterstelltes Triumvirat aus Exekutive, Techno- und Mediokratie kann das öffentliche und das Privatleben in das Prokustesbett angeblicher medizinischer Notwendigkeiten pressen.

Durch die Beschränkungen sozialer Kontakte und gemeinschaftlicher Aktivitäten wird der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen, um sich alsbald in neue, künstliche Strukturen und Hierarchien eingesperrt zu finden. Dort wird zwischen Erst-, Zweit-, und Drittgeimpften, Genesenen, Getesteten, Ungeimpften, Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern unterschieden; im Gegenzug werden gewachsene Strukturen in Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft, Familien lahmgelegt und zerstört. Eine  künstliche Dynamik, angetrieben durch die Entdeckung immer neuer Covid-Varianten, Infektionswellen und -wege, führt zu immer neuen Regelungen, Vorschriften, Beschränkungen, die für einen Normalbürger kaum noch überschaubar sind. Dadurch werden die Menschen in eine ständige Unsicherheit, in sinnlose Bewegung und psychischen Streß versetzt. Was zu Gereiztheit, Konkurrenz und Feindschaft zwischen den Individuen und den unterschiedlichen Segmenten der Corona-Gesellschaft führt. Weil das Endziel – die Ausrottung des Virus – nie erreicht sein wird, läßt sich die Panik und damit der Ausnahmezustand endlos verlängern. 

Die Paralyse ist nicht das eigentliche Ziel, nur der Zweck. Die Duldungsstarre macht die Bürger zu leicht kontrollier- und lenkbaren Objekten. Wer mit der Auswahl der vorschriftsmäßigen Covid-Maske ausgelastet ist, hat weder Zeit noch Energie, sich mit der EZB-Politik, der Zuwanderung aus Afghanistan, der Aufhebung der nationalen Selbstverwaltung, der Aussicht auf die Bargeld-Abschaffung und die Einführung eines Sozialpunkte-Systems nach chinesischem Vorbild zu beschäftigen. Er fügt sich in die Logik des neuen, von der Massengesellschaft hervorgebrachten Regierungsmodells und legt wie in der berühmten Parabel von Fjodor Dostojewski den neuen Großinquisitoren seine Freiheit zu Füßen: „Macht uns zu euren Knechten, aber macht uns satt.“

Da die zwischenmenschliche Kommunikation beschränkt, die Faktizität außer Kraft gesetzt und durch eine virtuelle Realität substituiert wird, hat die Bedeutung der großen, der öffentlich-rechtlichen Medien zugenommen. Sie beziehen sie aus ihrer Verschmelzung mit der administrativen Macht. Sie verkünden, was offiziell Fakt sein und stattfinden soll. Alternative Medien, analoge wie digitale, mögen ruhig Analysen und Text von weit höherer Qualität anbieten, doch von allen realen Machtressourcen abgeschnitten, gleichen sie Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder ihre Ohnmacht erträglicher zu machen versuchen, indem sie sie miteinander teilen. Von freier Presse bzw. freien Medien zu sprechen, ist unter diesen Umständen lachhaft.

Wo findet man noch Halt? Denn das ist der Unterschied zur Zeit des Kalten Krieges, als das Westfernsehen in die DDR-Wohnzimmer hineinstrahlte und die SED-Lügen konterkarierte: Das Reich der Lüge ist global geworden. Man kann ihm nicht entkommen, die Welt der Faktizität ist im Verschwinden. Rußland, China, die islamischen Länder sind keine Alternative. Bleibt der Rückzug in Enklaven: Wie am Ende des Romans „Fahrenheit 451“, einer Dystopie von Ray Bradbury, die von einer Welt erzählt, in der die Bücher, die Dokumente der Kultur, der Geschichte, des Geistes, verboten sind. Dissidenten, die im Verborgenen leben, repetieren die heimlich gelesenen Texte, um sie für bessere Zeiten aufzubewahren.

Foto: Immer und überall mit Mund-Nasen-Schutz: Leicht kontrollier- und lenkbare Objekte