© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

Der Schleier des Nichtwissens
Klassiker politischen Denkens: Vor fünfzig Jahren erschien John Rawls’ epochemachende Studie „A Theory of Justice“
Felix Dirsch

Zu den roten Fäden, die sich vom antiken politischen Denken zum modernen ziehen, gehört das Thema Gerechtigkeit. Platon konzipierte seinen Idealstaat als Zusammenwirken unterschiedlicher Stände (Philosophenherrscher, Wächter, Bauern und Händler), die den verschiedenen Seelenteilen entsprechen (vernünftiger, mutiger und begehrender Teil). In harmonischer Interaktion ist es ihre Aufgabe, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Vorstellung von Gerechtigkeit verband man in Antike und Mittelalter weitgehend mit ungleichen Strukturen, die zum Teil mit Rekurs auf faktisch-historische Verhältnisse, zum Teil unter Berufung auf religiös-hierarchische Legitimationsmuster gerechtfertigt wurden. 

Aristoteles hat zwei Formen der Gerechtigkeit differenziert: die Tauschgerechtigkeit zwischen Ebenbürtigen, der die Richtschnur der Gleichheit zugrunde liegt, und eine distributive Form mit ungleichem Maßstab. Diese verteilende Fassung fordert (im gemeinschaftlichen Rahmen) eine stärkere Belastung der Finanzkräftigen als der Geringverdiener, etwa bei der Bemessung des Steueraufkommens.

Spätestens die Verwerfungen der Industriellen Revolution ließen diese herkömmlichen Perspektiven wenn nicht obsolet, so doch unterkomplex erscheinen. Es begannen im 19. Jahrhundert Debatten über neuartige Formen der sozialen Gerechtigkeit, die bis heute andauern. Der Marxismus setzte an die Stelle der alten Anschauung „Jedem das Seine“ das Motto „Jedem nach seinen Bedürfnissen“.

Lange Zeit fehlte im politischen Denken des Westens ein zündender Entwurf, der die Komplexitäten im Rahmen der Fairneßbestimmung berücksichtigt. Er mußte in der Lage sein, die liberale Leistungsgerechtigkeit mit verteilungstheoretischen Regelungen zu verbinden. Ohne diese kann kein moderner Sozialstaat auskommen.

Herausragender Vertreter eines egalitären Liberalismus

Mit John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ kam vor einem halben Jahrhundert eine Abhandlung auf den Markt, die den Diskurs auf diesem weiten Feld neu ausrichtete. Die Grundsätze, die in diesem Buch präsentiert werden, sind einfach wie abstrakt formuliert, sehr theoretisch, aber doch praktisch umzusetzen und beachten verschiedene Implikationen der Gleichheit wie Ungleichheit.

Überraschend für viele Beobachter war es, daß der vorher schon bekannte US-Philosoph auf das Muster vertragstheoretischer Rechtfertigung zurückgegriffen hatte, die seit dem späten 18. Jahrhundert für viele Denker als obsolet gilt. Rawls stellt ins Zentrum seiner Überlegungen die Figur des „Schleiers des Nichtwissens“. Eine rational-gerechtigkeitstheoretische Entscheidungsfindung ist danach nur möglich, wenn über wichtige Positionen wie Geschlecht, Vermögen, allgemeine Lebenssituation und so fort bei der Wahl der Prinzipien im Urzustand Unkenntnis herrscht. Unter anderen als anonymen Bedingungen liegt (Rawls zufolge) eine Bevorzugung der eigenen Stellung nahe. Die atomistischen Individuen, oft als „Selbste“ verspottet, weil ihnen die personale Identität fehlt, müssen sich also unter solchen spezifischen Voraussetzungen einigen.

Rawls entwickelt vor dem Hintergrund solcher Annahmen zwei zentrale Grundsätze: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreiche System der Freiheiten. Gemeint sind im wesentlichen die Grundrechte, die nach strikter Maßgabe der Gleichheit zu gewähren sind. Diese Regelung erscheint im Kontext der westlichen Freiheitsgeschichte als selbstverständlich. Der zweite Grundsatz ist weitaus umstrittener. Der Autor rechtfertigt im sogenannten Differenzprinzip ökonomische Ungleichheit, aber nur unter der Bedingung, daß der entsprechende Entwurf die ökonomisch Schwächsten besserstellt. Auch diese Vorstellung knüpft an bekannte politisch-ökonomische Vorgehensweisen an, etwa an die progressive Besteuerung, die zunehmenden ökonomischen Unterschieden entgegenwirken soll. Freiheit geht aber für den Sozialliberalen Rawls stets vor Wohlstand und nutzenorientiertem Kalkül.

Rawls, der in späteren Werken, etwa in der Schrift „Die Idee des politischen Liberalismus“, einige Gedankengänge modifiziert hatte, galt bald als herausragender Vertreter seiner Disziplin. Das schließt deutliche Kritik an seiner Konzeption nicht aus: Der „Schleier des Nichtwissens“ gilt bis heute als irreales Konstrukt; denn jedes Gemeinwesen steht in einer Tradition und beginnt nicht an einem mehr oder weniger fiktiven Zustand von Null an. Die Individuen kennen tatsächlich ihre Position. Außerdem gelten Rawls’ Darlegungen den Kritikern als Legitimierung des westlichen Kapitalismus, dessen Trend zur Ungleichheit (wenn überhaupt) nur notdürftig durch marginale Umverteilung kaschiert werde. Rawls hat in seinen späteren Arbeiten die theoretische Annahme des „Schleiers des Nichtwissens“ nicht mehr berücksichtigt.

Den ultraliberalen Opponenten Rawls’, etwa Robert Nozick, gingen die Umverteilungsmechanismen zu weit. Sie argumentierten auf der Basis eines Minimalstaates. Die kommunitaristischen Vertreter (Charles Taylor, Michael Walzer, Michael J. Sandel und andere) hingegen verstärkten den Einwand, man könne eine komplexe Gesellschaft nicht aus idealtypischen Grundsätzen ableiten, wie Rawls dies tue. Ihre Reflexionen setzen beim realen Gemeinwesen an. Sie sehen den Einzelnen geprägt von Nation, Religion, Kultur sowie anderen Faktoren und nicht als atomistisch-geschichtsindifferente Größe.

Die lebendige Kontroverse in den siebziger und achtziger Jahren über den Klassiker des Harvard-Professors brachte eine großangelegte Renaissance der politischen Philosophie hervor, die sich (vereinfacht formuliert) zwischen Ultraliberalen, Rawlsianern und Kommunitaristen bewegte. Letztere besitzen unstrittig deutsche Ahnherren, etwa Ferdinand Tönnies. Aufgrund des Mißbrauchs des Gemeinschaftsgedankens im Dritten Reich hat eine entsprechende Kontroverse nach 1945 hierzulande nicht stattfinden können.

Acht Grundsätze für eine gerechte internationale Ordnung

Die heutigen Fairneßdebatten haben den national-sozialstaatlichen Rahmen längst verlassen. Rawls, der 2002 verstorben ist, vollzog noch in seinem Spätwerk die globale Wende: Seine Publikation „Das Recht der Völker“ enthält acht Grundsätze für eine gerechte internationale Ordnung. Der Verfasser entwickelt darin einen hypothetischen „Vertrag der Gesellschaft der Völker“. Vielen gehen solche Überlegungen nicht weit genug. So überrascht es nicht, daß der aus Indien stammende Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen seinen Capability-Ansatz, der Individuen befähigen will, an einer gerechten Gesellschaft teilzuhaben und der Armut zu entgehen, in Abgrenzung zu Rawls konturiert. Auch für den Nobelpreisträger stehen, wie für die Philosophin Martha Nussbaum, Chancengleichheit und der Gedanke globaler Gerechtigkeit im Vordergrund.

Auch in Deutschland liegt eine intensive Rawls-Rezeption vor. Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe, der sich seit den 1970er Jahren um eine Rezeption der „Theory“ bemüht, hat inzwischen diverse eigene Konzeptionen vorgelegt. Sozialstaat und solidarische Weltgesellschaft werden durch den Tausch gerechtfertigt. Die Tauschpartner begegnen sich auf Augenhöhe. Die Spannung zwischen einem egalitären und einem liberalen Verständnis von Gerechtigkeit soll auf diese Weise zumindest verringert werden. Dabei kann, gerade vor globalem Hintergrund, der ärmere Partner mehr nehmen, als er gibt. Für Diskussionen über die Anwendung der Rawlsschen Theoreme ist auch in Zukunft gesorgt.

John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp, Berlin 1979, broschiert, 688 Seiten, 25 Euro