© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/21 / 24. September 2021

Kämpfer mit Löwenherz
Kino I: Die Dokumentation „Lionhearted – Aus der Deckung“ folgt einem deutschen Boxclub nach Westafrika
Dietmar Mehrens

Man kann mich aus dem Ghetto holen“, sagt Burak, „aber das Ghetto nicht aus mir.“ Der drahtige junge Mann mit den auffälligen Tätowierungen auf der Brust steht auf einem schrottreifen Auto und schlägt mit den Fäusten in die Luft. Früher richteten seine Fäuste mehr Schaden an. Er hat sich mit Schlägerbanden herumgetrieben, ist mehrfach vorbestraft. Raschad wurde von seinem Vater in dessen Heimat Togo abgesetzt, als er mit 13 anfing, die vielen Privilegien, die er in Deutschland genoß, für eine Selbstverständlichkeit zu halten. Abu Fela, 24 Jahre jung, nimmt das Boxtraining so ernst, daß er tatsächlich ganz groß rauskommen könnte. Und Saskia will einfach nur Kraft aufbauen gegen die Widerstände des Lebens. 

Daß der Boxsport eine wunderbare Möglichkeit ist, Menschen aus eher prekären Verhältnissen und mit mehr als einem Bruch im Lebenslauf Halt zu geben, hat das Medium Film schon mehrfach vorgeführt: natürlich in der „Rocky“-Saga mit Sylvester Stallone, aber auch in „The Fighter“ (2010) und „The Wire“, der stilprägenden US-Gangsterserie, in der Boxsozialarbeiter Cutty Wise Jugendliche vor dem Absturz ins kriminelle Milieu, in Depression oder Drogensumpf zu bewahren sucht.

Der Trainer hat es mit verletzten Seelen zu tun

Einen ganz anderen Weg, nämlich einen nicht-fiktionalen, ist die Autorin und Regisseurin Antje Drinnenberg gegangen. Sie hat sich für ihren Dokumentarfilm „Lionhearted“ (auf deutsch etwa: „Mit einem Löwenherz ausgestattet“) in die Boxabteilung der Münchner Löwen begeben, besser bekannt wegen ihrer Rivalität mit dem Fußball-Rekordmeister FC Bayern auch als TSV 1860 München.

Dort führt Trainer Ali Cukur sein beinhartes und zugleich liebevoll väterliches Regiment, wie es Clint Eastwood für seine Rolle in „Million Dollar Baby“ (2004) als reales Vorbild hätte dienen können, zumal auch in „Lionhearted“ eine Boxerin, die sensible Saskia, einer der Protagonisten ist. Ein schwerer Schicksalsschlag verbindet sie mit Ali, der sie auch mal zärtlich in den Arm nimmt, als sei die #MeToo-Hysterie an beiden spurlos vorbeigegangen. Ali ist ein Vollprofi, wie ihn kein Hollywood-Drehbuch sich besser hätte ausdenken können. Er entspricht fast zu vielen Klischees, um eine reale Figur zu sein. „Jeder hat hier Risse“, sagt er, während er den rissigen Punchingsack im Trainingsraum eincremt. Der Trainer weiß, daß er es mit verletzten Seelen zu tun hat, weil seine Seele infolge väterlicher Mißhandlungen selbst verletzt ist. Aber er hat einen Weg gefunden, den Schmerz in etwas Produktives umzuwandeln. 

Als man sich bereits mit dem Gedanken abgefunden hat, eineinhalb Stunden lang in Originaltönen die Lebensgeschichten von Migranten mit gebrochenen Lebensläufen präsentiert zu bekommen, die in der Sporthalle von 1860 München wahlweise ihren Frust abbauen oder totschlagen, wovon sie zuviel haben, nämlich Zeit, überrascht Drinnenberg ihre Zuschauer genauso wie Ali seine Schützlinge mit einer spektakulären Auslandsreise, die Teil des Trainingsprogramms ist. Sie führt nach Accra, der Hauptstadt von Ghana. Direkt am Meer, zwischen schäbigen Fabrikhallen und zugemüllter Stadtrandzone, überragt von einem alten Leuchtturm, liegt das Trainingszentrum der Charles Quartey Foundation.

Quartey, früher selbst Boxer, ist die Realversion von Cutty Wise: Er will Jugendlichen aus Accras Elendsvierteln eine Perspektive geben. Für die einen, den gläubigen Abu Fela aus Guinea etwa oder den Togolesen Raschad, ist es eine Reise zu ihren Wurzeln, für die anderen, wie den narzißtischen Burak oder die um Selbstvertrauen ringende Saskia, eine Erfahrung, die sie an ihre Grenzen bringt. Sie sehen, wie besessen die Slum-Jugendlichen trainieren. Für sie ist der Sport keine Option, er ist ihre Fahrkarte ins Leben.

Als wäre sie bei den Afrika-Krimis „Der ewige Gärtner“ (2005) oder „Captain Phillips“ (2013) in die Lehre gegangen, zeigt Drinnenberg die endlosen Blechdachhütten des Stadtrandgebiets von Accra immer wieder aus der Vogelperspektive. „Lionhearted“ offenbart so einerseits, warum die, die auf dem afrikanischen Kontinent geboren wurden, dort keine Zukunft für sich sehen, und andererseits, daß die von ihr porträtierten Jugendlichen viele ihrer Probleme niemals hätten, wenn sie nicht durch Migration entwurzelt worden wären. „Das Leben ist eine Metapher fürs Boxen“, behauptete Schwergewichtsweltmeister George Foreman. Ein schönes Motto für einen Film, in dem das Boxen für alle alles ist.

Kinostart ist am 23. September 2021  https://lionhearted-der-film.de